Auch hochrangige Politiker malen aus Langeweile vor sich hin: Zum Beispiel eine Sphinx oder einen Kreis, der immer größer wird, je länger die Diskussion zu Armut, Kriminalität und Integration dauert. Wenn hochrangige Regionalpolitiker aus Neukölln und Neapel miteinander reden, jeder Satz von einer Dolmetscherin übersetzt werden muss, kommt es zu vielen Gesprächspausen, und nach einer Stunde überfällt alle eine lähmende Müdigkeit. Das könnte auch an so allgemein klingenden Sätzen liegen wie zum Beispiel: „Wir haben das Problem der Kriminalität analysiert“ oder „wir setzen viele Sozialarbeiter ein, um der Lage in Neapel Herr zu werden.“ In solchen Situationen ist jeder dankbar, wenn einer wie Heinz Buschkowsky (SPD) mit am Tisch sitzt und alle aufweckt mit einer Frage wie: „Lassen Sie es mich mal philosophisch ausdrücken: In Neapel gibt es 40 Prozent Arbeitslosigkeit und keine Sozialleistungen vom Staat. Die Menschen laufen doch nicht ins Mittelmeer, sondern suchen sich eine Lösung: Wie verhindern Sie, dass sie bei der Mafia landen?“
Gefragt hat der Neuköllner Bürgermeister das in einer Sitzung mit der Bürgermeisterin von Neapel, Rosa Russo Iervolino, eine 75 Jahre alte Politikerin, die in dieser Woche ihr Amt niederlegt. Buschkowsky ist nach Neapel gereist, um sich vor Ort zu informieren, wie diese Stadt mit ihren sozialen Problemen umgeht, die oberflächlich gesehen denen von Neukölln gleichen: Bildungsferne Schichten, für die Gewalt und Kriminalität eine Option ist. „Ich will mit den Augen und Ohren stehlen“, sagt er über diese Reise, die nicht die erste ihrer Art ist. In früheren Jahren war er in Rotterdam, London, Glasgow, Tillburg und Oslo. Von diesen Reisen hat er schon oft Anregungen mitgenommen – die Idee der Stadtteilmütter aus Rotterdam zum Beispiel. Oder aus Tillburg die Idee zur engen Vernetzung von Sozialamt, Polizei und Jugendamt, um auf diese Weise Problemfamilien besser gerecht zu werden. In Berlin darf es solche Kooperationen jedoch aus Datenschutzgründen nicht geben.
Eine kleine Delegation
Diese ämterübergreifende Zusammenarbeit wird mit der dreitägigen Reise zumindest symbolisch real. Denn die Neuköllner Delegation hat außer Buschkowsky noch drei weitere Mitglieder: den Neuköllner Migrationsbeauftragten Arnold Mengelkoch, die Bezirksstadträtin für Bildung, Franziska Giffey, und den Jugendrichter Günter Räcke, der mit der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig eng zusammengearbeitet hat und jetzt ihren Platz auf dieser Bildungsreise ausfüllt. Bildung, Justiz, Migration – die drei Arbeitsfelder hängen in Neukölln eng zusammen. Buschkowsky reist mit nur einem kleinen Rollkoffer, Mengelkoch dagegen mit einer dicken Reisetasche – voller Gastgeschenke: Kugelschreiber mit Neukölln-Logo, eine Neukölln-CD und mehrere Neukölln-Buddy-Bären-Statuen.
Das Viererteam macht sich keine Illusionen über die Stadt, die sie besuchen. „Wir reisen in das Armenhaus Europas“, sagt Buschkowsky. „Ich denke, zum ersten Mal auf diesen Reisen werden wir wohl zurückfliegen mit dem Gefühl, dass es uns doch in Neukölln ganz gut geht.“
Neukölln hat 300.000 Einwohner, rund die Hälfte sind Migranten, Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate sind hoch. Zudem gebe es elf arabische Großfamilien, die Neukölln mit einem Netz organisierter Kriminalität überzogen hätten, erzählt Buschkowsky.
Diese Probleme wirken angesichts derer in Neapel in der Tat kleiner: Die offizielle Zahl der Immigranten in der Ein-Millionen-Einwohner-Stadt ist mit 40000 verschwindend gering, Zahlen zu illegalen Einwanderern gibt es nicht. Das große Problem Neapels sind die mehr als 100 Mafia-Clans der Camorra, die sich seit rund 400 Jahren gegenseitig die Macht streitig machen, ein Kampf, der in den vergangenen zehn Jahren rund 1000 Tote gefordert hat. Die Camorra ist der größte Arbeitgeber der Stadt, kontrolliert Baugewerbe, Drogenhandel und Müllabfuhr.
Sanità, einer der ärmsten Stadtteile Neapels, ist die erste Station der Reise. Der Bezirksbürgermeister läuft vorbei an Müllbergen, an einem aufgebrochenen Auto, inmitten von baufälligen Wohnhäusern. Übergewichtige Kinder sitzen am Straßenrand und essen aus Chipstüten. Vor einem der Häuser bleibt Buschkowsky stehen, schaut auf die Löcher in den Fassaden, die wie Platzwunden aussehen. Wäsche hängt an jedem Balkon, der Eingang ähnelt einer dunklen Höhle. Buschkowsky: „Wenn eines dieser Häuser in Neukölln stehen würde, hätte es schon längst einen Aufstand gegeben.“
Don Antonio Loffredo ist der Reiseleiter durch diese Region. Vor zwei Jahren hat er hier die Katakomben und die unterirdische Basilika zu einem Museum ausgebaut, deren Mitarbeiter fast ausschließlich Jugendliche aus Sanità sind. Sie wissen alles über die zum Teil 1700 Jahre alten Fresken, über das unterirdische Grab des Stadtheiligen San Gennaro und die tropfenden Decken. Über die Arbeit in den Katakomben will Don Loffredo ihnen zeigen, dass es ein Leben außerhalb von Gang-Gewalt und Drogen gibt.
„Mein Hauptziel ist die Bildung“, sagt Don Loffredo und fügt gleich an, dass er mit seinen beschränkten Mitteln aus privaten Spenden nicht viel erreichen kann. Neben dem Museum organisiert er ein kleines Hostel, eine Tanzschule, eine Metallkunstwerkstatt und ein Orchester, das ausgerechnet den „Gefangenenchor“ aus Verdis Oper „Nabucco“ probt. Er wolle mit diesem Projekt die Stadtpolitik provozieren, damit sie sehe, dass es möglich ist, gegen fehlende Bildung und Arbeitslosigkeit vorzugehen. Die Stadt aber habe sein Projekt bisher ignoriert. Es wird das einzige Hilfsprojekt bleiben, das auf dem Reiseplan der Delegation steht – weil es schlicht kein weiteres gibt. Der Rest der Reise besteht vor allem aus Gesprächen in Amtszimmern. Gespräche mit Polizeichefs, Schulamtsleiter, Jugendrichter, dem Präfekten der Stadt, dem Vertreter Roms im Distrikt Kampanien und eben mit der Bürgermeisterin von Neapel.
Bei den Fragen nach Projekten zu Armut und Kriminalität in Neapel wird der Hauptunterschied zu Neukölln deutlich: „Unsere Kriminalität kommt hauptsächlich nicht von Migranten“, sagt Polizeichef Maurizio Morella, „sondern von Einheimischen.“ Vor allem betroffen: die 16- bis 25-Jährigen in Neapel. Doch ein Präventionsprogramm für diese jungen Menschen gebe es bisher nicht. Die EU-Mittel werden nicht genutzt, weil sie nicht bekannt sind oder weil die Ideen fehlen. Der Polizeichef spricht von einem „Gegenstaat“, den man zugelassen habe.
Das lässt der Delegation am Abend keine Ruhe. Die vier Neuköllner sitzen bei einem Abendessen in der Residenz des Konsuls Christian Much, mit Blick über die Stadt, den Golf bis hin nach Capri. „Wir reden in Neukölln immer von der Parallelgesellschaft“, sagt Buschkowsky, „doch da haben wir es ja noch leichter.“ Zwar gebe es Drogenprobleme und Arbeitslosigkeit, die aber nicht wie in Neapel bei Jugendlichen 50 bis 60 Prozent erreicht habe. „In Berlin gibt es zumindest Programme zur Förderung.“ In Neapel habe man kapituliert, sagt er.
Landesweit wird gestreikt
Den Freitag, den letzten Tag der Bildungsreise, verbringt die Buschkowsky-Delegation zunächst im Stau. Ein landesweiter Streik legt den öffentlichen Verkehr lahm. Die Fahrt nach Castel Volturno dauert doppelt so lang wie geplant, ein über 27 Kilometer lang gezogener Badeort, der in den letzten Jahren komplett „umgekippt“ sei, wie es in der Polizeisprache heißt. Von den rund 25.000 Einwohnern sind die Hälfte Nicht-Italiener, unter ihnen viele Nigerianer, vom Anteil also wieder vergleichbar mit Neukölln. Die Afrikaner kontrollieren Prostitution und Drogenhandel – geduldet von der Camorra, der sie „Steuern“ zahlen. Doch Bürgermeister Antonio Scalzone ist überzeugt, dass sich der Ort wieder als Touristengebiet etablieren lässt. Zentrum seiner Hoffnung ist das Hotel „Boomerang“, eine ausgebrannte Großruine, die von jungen Afrikanern besetzt ist. Scalzone ist stolz zu berichten, dass er den Migranten gratis Krankenversorgung garantieren kann. Dafür erwarte er von ihnen, dass sie sich an die Regeln seines Landes halten. Scalzone erzählt von verschärften Kontrollen im Ort und von Migranten-Kindern, denen kostenlose Bildung angeboten werde.
Doch für eine Führung durch den Ort bleibe leider keine Zeit, da ein opulentes Mittagessen vorbereitet sei. In einem Restaurant gibt es Büffelmozzarella, Parmaschinken, Tomate mit Krebsfleischfüllung und Spaghetti mit Hummer. Heinz Buschkowsky rührt den Hummer nicht an. Vielleicht weil er keinen Hunger mehr hat, vielleicht, weil hier etwas nicht stimmt. Dieses letzte Treffen hat etwas vom potemkinschen Dorf, die schöne Fassade, die „bella figura“. Auf der Rückfahrt zum Flughafen wird Buschkowsky deutlich. „In Neapel kann man nicht von Integration sprechen“, so Buschkowsky. „Die haben so viel mit sich selbst zu tun, dass sie für ihre Probleme mit Migranten keine Zeit haben.“ Dass er nicht viel lernen konnte, sieht Buschkowsky gelassen: „Der Fischer kommt nicht von jeder Ausfahrt mit vollem Netz zurück.“