Die tödlichen Stiche im U-Bahnhof Wittenau sind der traurige Höhepunkt der Jugendgruppengewalt in dem Kiez. Haben Jugendamt, Justiz, Familie und Polizei versagt?

Die tödlichen Messerstiche auf den 17-jährigen Cavit H. in Wittenau schockieren Berlin. Wegen ihrer Sinnlosigkeit, der absoluten Nichtigkeit des Motivs. Streitigkeiten um das Revier eines U-Bahnhofs und ein geworfener Schneeball wenige Stunden vor der Tat ließen Malte D. * höchstwahrscheinlich zum Täter werden. Das Gericht wird ein Urteil sprechen, vermutlich schon bald.

Doch Maltes Aggressionen kamen nicht überraschend. Bereits als Kind hatte der heute 15-Jährige Hinweise gezeigt, dass er auf die schiefe Bahn geraten wird. Polizisten wissen von seinen Taten, von Beleidigung und Einbruch, von Gewaltdelikten. Immer neue Bemühungen des Jugendamtes seien gescheitert, obwohl es in den vergangenen Jahren zahlreiche Hilfsangebote gegeben habe, berichten Beamte.

Malte D. – ein zum Scheitern bestimmter Lebenslauf: Die kriminelle Karriere von Malte D. begann bereits im Jahr 2008, als er noch ein Kind war. Doch sie blieb ohne Konsequenzen; „Verfahrenshindernis Strafunmündigkeit“, hieß es einem Beamten zufolge. Später summierten sich die Zwischenfälle. Malte D. saß drei Wochen lang im Jugendarrest wegen Einbruchs. Er wurde wegen Fahrens mit einem Moped ohne Führerschein von der Polizei aufgegriffen; ein weiterer Einbruch folgte. Er beleidigte Menschen, bewarf Passanten mit Steinen und bedrohte Angehörige einer Sicherheitsfirma, die in einem Wohnblock für Ruhe sorgen sollten.

Das Jugendamt wurde aufmerksam auf den Jungen, bemühte sich um ihn, soll nach Informationen von Morgenpost Online aber an der ungenügenden Kooperationsbereitschaft seiner Eltern gescheitert sein – sie sollen sich gegen eine Unterbringung in einem betreuten Wohnheim ausgesprochen haben. Unmittelbar vor der Tat am vergangenen Sonnabend gab es bei der Justiz schließlich Überlegungen, den 15-Jährigen in die Intensivtäter-Kartei aufzunehmen.

Ein an den Ermittlungen beteiligter Beamter: „Verrückt ist der Umstand, dass viele im Kiez den Jugendlichen kennen und sich so gar nicht entsetzt über das zeigen, was ihm zur Last gelegt wird. Er sei doch ein netter Junge, fast noch ein Kind, und wer wisse schon genau, was da passiert sei, hören wir immer wieder“, so der Polizist verständnislos.

Die CDU-Fraktion forderte nach der Bluttat am Dienstag ein entschiedenes Vorgehen. „Ein an sich harmloser Schneeballwurf am U-Bahnhof Wittenau endete für einen 17-Jährigen tödlich. Dieser barbarische Akt stellt einen traurigen Höhepunkt der Jugendgruppengewalt dar. Dieser Vorfall ist für uns ein notwendiger Anlass, den Umgang des Senats mit diesem Phänomen zu hinterfragen“, heißt es in einer Presseerklärung. Seit Jahren würden verfeindete Jugendbanden in Reinickendorf und auch anderen Bezirken ihr Unwesen treiben. Obwohl die Anwohner die Gewaltexzesse bestätigten, scheine der Senat kein Interesse daran haben, diese zu verhindern. Diese Interessen- und Tatenlosigkeit zeige sich daran, dass seit Monaten zwar ein geschlossenes Heim in Berlin angekündigt werde, aber nichts geschehe. Verstärkte Waffenkontrollen bei Jugendlichen hätten den Tod des Schülers vielleicht verhindern können, kritisierte Robin Juhnke, der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus.

Viele Experten der Polizei und der Jugendbehörden haben daran Zweifel. Waffen, insbesondere Messer bei sich zu haben, sei heutzutage bei den vielen Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit, berichtet ein Streetworker. „Wenn ich versuche, ihnen klar zu machen, dass es vernünftiger wäre, ohne Messer in der Tasche herumzulaufen, schauen die ganz entgeistert oder lachen mich aus“, schildert der Experte die Mentalität seiner jugendlichen Klientel. Wie die meisten Fachleute, die mit Jugendkriminalität und Jugendgruppengewalt vertraut sind, möchte er nicht namentlich genannt werden. „Meine Behörde mag es nicht sehr, wenn man zu viel über die Zustände auf den Straßen erzählt“, begründet der Sozialpädagoge seinen Wunsch nach Anonymität.

Wie es auf den Straßen zugeht, darüber könnten auch die Polizeibeamten berichten, die als Präventionsbeauftragte in den Abschnitten oder in den „Operativen Gruppen Jugendgruppengewalt“ (OGJ) der Direktionen tätig sind. „Messer gehören bei Jugendlichen quasi zur Grundausstattung. Selbst nicht gewaltbereite Jugendliche bewaffnen sich zunehmend, mit der Begründung, sich im Ernstfall wehren zu müssen“, erzählt ein OGJ-Angehöriger. Sein Fazit: „Es war eigentlich abzusehen, dass so etwas mal passiert“.

Was genau passiert ist im Bahnhof Wittenau, das versuchen Staatsanwaltschaft und Mordkommission jetzt aufzuklären. Justizsprecher Martin Steltner sagte am Dienstag, der Tatverdächtige habe sich im Beisein eines Anwaltes zu den Vorwürfen geäußert. Was der 15-Jährige ausgesagt hat, dazu wollte Steltner aus „ermittlungstaktischen Gründen“ nichts sagen. Aussagen von Beteiligten und Zeugen sind momentan alles, auf das die Ermittler zurückgreifen können. Im Bahnhof Wittenau gibt es zwar eine Kamera, die das Geschehen auch aufgenommen hat. Aber die Bilder wurden wegen eines Defektes der Anlage nicht gespeichert.

* (Name geändert)