125. Geburtstag

Wie der Kurfürstendamm zum Mythos wurde

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Sven Felix Kellerhoff

Foto: Amin Akhtar

Kaum ein Ort in Berlin repräsentiert das Lebensgefühl in der Hauptstadt so sehr wie der Kurfürstendamm in Charlottenburg. Nun feiert der Boulevard seinen 125. Geburtstag.

Es gibt ihn noch, den „alten“ Kurfürstendamm. Den Geist der vermeintlich „goldenen“ Zwanziger. Zwar ist der Überrest klein und äußerlich unscheinbar, doch dafür umso sehenswerter. Im Innenhof des strahlend weißen Gründerzeitbaus Kurfürstendamm 29 übersieht man das Atelierfenster auf den ersten Blick leicht. Doch dahinter, im vierten Stock, lebt die Vergangenheit aus der wahrscheinlich größten Epoche des Boulevards. Hier wohnte seit den 20er-Jahren bis zu ihrem Tod 1976 die Malerin Jeanne Mammen, und praktisch unverändert wird das Atelier seither von der ihr gewidmeten Stiftung erhalten; angemeldete Besucher können es besichtigen. Mammens Zeichnungen, unter anderem von Frauen in Kudamm-Cafés, sind so etwas wie das Tor in eine längst verschwundene Wirklichkeit.

Immer erkennbar Kudamm

Nirgendwo sonst auf den gut dreieinhalb Kilometern der Prachtstraße ist diese Facette der legendenumrankten Geschichte noch so lebendig. In den frühen 20er-Jahren, einer allen damaligen wie nachträglichen Verklärungen zum Trotz schwierigen Zeit voll politischer und sozialer Spannungen, wurde der Kurfürstendamm zur Bühne eines ganz eigenen, kosmopolitischen Lebensgefühls. Den Wiener Autor und zeitweiligen Wahlberliner Joseph Roth etwa verband eine ambivalente Faszination mit der Straße zwischen Lunapark und Zoo, zwei der großen Publikumsattraktionen der Reichshauptstadt: „Seit Langem bemühe ich mich, das Geheimnis zu erraten, das ihn befähigt, trotz jedes jähen Wechsels seiner Physiognomie doch noch erkennbar zu bleiben, ja sogar immer mehr Kurfürstendamm zu werden.“

In den ganzen 125 Jahren seiner Existenz als Prachtstraße war der Boulevard immer auch eine Projektionsfläche – für Träume, Hoffnungen, Vorurteile. Das war so in seinen Anfängen als elegante Wohnadresse der oberen Zehntausend Charlottenburgs; Reichskanzler Bismarck hatte sich eingesetzt für eine Berliner Entsprechung der eleganten Champs-Élysées in Paris. Es setzte sich fort während der „wilden Zwanziger“ und die Zeit der Judenaustreibungen in den dreißiger und vierziger Jahren. Während der Teilung Berlins und Deutschlands wurde der Boulevard als „Schaufenster der Freiheit“ sogar zum Ort der Weltpolitik – und selbstverständlich zum unerreichbaren Vorbild aller „sozialistischen Stadtentwicklung“ auf der anderen Seite der Mauer.

Seit seinem 100. Jubiläum 1986 hat der Kudamm schon wieder mehrere Verwandlungen hinter sich: Wo sonst als hier hätten die schwarz-rot-goldenen Feiern wegen des Falls der Mauer und des Siegs bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 ihren Höhepunkt erreichen können? Selbst dass sich Kultur und Geschäftsleben schlagartig in die wiedergewonnene Mitte orientierten, überstand er – unter Schmerzen zuweilen, aber letztlich doch problemlos. Inzwischen liegen die feinsten Shoppingmöglichkeiten Mitteleuropas wieder hier; dieser bisher jüngste „Wechsel seiner Physiognomie“ soll mit dem neuen dominierenden Schlusspunkt des Boulevards, dem Hotel Waldorf-Astoria, vollendet werden.

Die fortwährende Wandlungsfähigkeit ist zugleich Voraussetzung und Folge des Mythos Kurfürstendamm. Sie fußt auf der kurzen Blütezeit der ersten Berliner Republik, zwischen der Überwindung der grassierenden Inflation 1924 und dem massiven Durchschlagen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland 1931. Von diesen wenigen Jahren zehrt der Boulevard bis heute – mit sichtlichem Vergnügen.

Obwohl der Kudamm immer und auch in den 20er-Jahren eine Einkaufsstraße war, blickten doch die Geistesgrößen jener Zeit fast angewidert herab auf alles Kommerzielle. Der Feuilletonist Alfred Polgar beschrieb dieses Gefühl 1929: „Der Kurfürstendamm hat sein besonderes Klima, welches den Kreislauf des Geldes beschleunigt und die Erwerbsdrüsen sowie auch die Sinnlichkeit anregt.“

Inspiration für Revuen

Eine größere Dichte an Schriftstellern, Intellektuellen und anderen Lebenskünstlern als in den legendären Kaffeehäusern am Kudamm in den 20er-Jahren gab es in Berlin wohl nie. Im Romanischen Café vis-à-vis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche etwa. Der Journalist Walter Kiaulehn beschrieb es so: „Das ,Romanische' war lieblos und ohne jede Stimmung, ein besonders missglückter Bau aus der wilhelminischen Zeit. Nur groß, zwei Riesenräume, davon einer mit Rang, taghell beleuchtet bis zum Morgen. Dafür immer knackvoll.“ Spitz fügte der gebürtige Berliner hinzu: „Schön war nur die Terrasse und besonders am frühen Vormittag, wenn die Literatur noch schlief.“ Tatsächlich gehörten ab der Mittagszeit Autoren wie Brecht, Kisch, Kästner und Ringelnatz zum Stammpublikum, Komponisten wie Hanns Eisler und Friedrich Hollaender, dazu so unterschiedliche Maler wie Max Liebermann und Otto Dix.

Sie alle zog die besondere Atmosphäre der Prachtstraße an, auf der noch 1921 die Baupolizei eine Reklametafel abmontieren ließ, weil sie den „herrschaftlichen Charakter“ störe – und die nur wenige Jahren später bei Nacht taghell leuchtete durch unzählige Leuchtreklamen. Ein Revue-Theater grenzte an die nächste Bühne, ein Kino stand neben dem anderen. Der Pianist und Impressario Rudolf Nelson präsentierte hier seine Revuen, deren Couplets und Sketche oft inspiriert waren vom alltäglichen Leben auf ihrer Straße. Denn Nelson und seine Frau lebten selbstverständlich ebenfalls am Kurfürstendamm, in Haus Nummer 186, nur 800 Meter von seinem Theater in Nummer 217 entfernt.

Viele der kleinen Vorgärten und Rabatten der gründerzeitlichen Bebauung waren Terrassen von Restaurants und Cafés gewichen – Platz genug dafür gab es dank der einst vom Königlich-preußischen Kabinett festgelegten Straßenbreite von 53 Metern. Sobald der Frühling ausbrach in Berlin, war mindestens die Hälfte des üppigen Platzes der Trottoirs vollgestellt mit Stühlen und Tischen. Und weil der Straßenverkehr zwar für damalige Verhältnisse bereits schwer erträglich, von heute aus gesehen aber erfreulich gering war, saßen Einheimische und Besucher Stunde um Stunde, um zu sehen und noch wichtiger: gesehen zu werden.

Intellekt, Kommerz und Spaß

Typisch für den Kurfürstendamm wurde das Promenieren, das George Grosz 1926 in seinem beißend präzisen Gemälde „Kurfürstendamm“ karikierte. Der Schriftsteller Franz Hessel beschrieb diesen Zeitvertreib 1929 so: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden.“ Während die Leipziger Straße, damals Berlins beste Modemeile, vor allem eine Verbindung zwischen den zahlreichen Geschäften blieb und die Friedrichstraße meistens ein Ort oft halbseidenen Vergnügens, verbanden sich auf dem Kurfürstendamm in den wenigen glücklichen Jahren der Weimarer Republik Intellekt, Kommerz und Unterhaltung zu einer ganz besonderen Melange. Sie macht den Mythos Kurfürstendamm aus, seit nun schon fast drei Generationen, in denen die Straße andere Wege genommen, sich mehrfach neu erfunden hat. Der „Kudamm der „Goldenen Zwanziger“ aber bleibt unsterblich.