Nicole Rittstieg vertritt nicht die harte Linie. Sie sagt Sätze wie: „Man hört immer nur, dass alle die Trinker und Junkies loswerden wollen, die brauchen aber Hilfe.“ Die verheerende Situation am Weddinger Leopoldplatz redet die 35-Jährige allerdings nicht klein. Schließlich hat der Drogenhandel dort extrem zugenommen. Der Leopoldplatz gilt seit dem 24. Juli als „kriminalitätsbelasteter Ort“, weshalb die Polizei dort in den vergangenen drei Monaten fast täglich präsent war. Sicher, schön war die Gegend nie, immer arm und irgendwie etwas ramponiert. Nun machen selbst die für eine gewisse Lässigkeit bekannten türkischen Ladeninhaber rund um den Platz gegen die Zustände Front. So gehe es nicht weiter, lautet das Resümee.
Jetzt soll Abhilfe geschaffen werden, und zwar mithilfe der Erkenntnisse aus einer anderen Metropole: New York. In den 70er- und 80er-Jahren verkam diese Stadt zunehmend, bis sich die Stadtregierung aufraffte, um gegen Verelendung und Verslumung vorzugehen.
Am Leopoldplatz ist die Bürgerplattform „Wir sind da“ aktiv. Initiatoren sind der amerikanische Priester Leo Penta und die Quartiersmanagerin Susanne Sommer. Penta ist seit 31 Jahren in Berlin und Professor für Gemeinwesenarbeit an der katholischen Hochschule für Sozialwesen. In den 70er-Jahren praktizierte er in heruntergekommenen Ecken des New Yorker Stadtteils Brooklyn „Community Organizing“. In Berlin hat Penta mittlerweile mehr als 50 Gruppen aus Wedding und Moabit an einen Tisch gebracht, etwa die Haci-Bayram-Moschee, das Indonesische Weisheits- und Kulturzentrum, katholische Kirchengemeinden, das SOS-Kinderdorf oder die sudanesische Gemeinde Berlin-Brandenburg. Zielstellung: Wie kann der Kiez für alle lebenswert bleiben?
„Die Ecke war nie einfach“
Als Nicole Rittstieg in den 90er-Jahren von Hannover in die Weddinger Malplaquetstraße zog, traf man die Trinker und Junkies vorwiegend in den Seitenstraßen, auch in der Malplaquetstraße, dort, wo die 35-Jährige ein Antiquariat betreibt. Nun lagern die Tippelbrüder, Drogenabhängigen und Gestrandeten der Stadt am Leopoldplatz, dem einstigen Aushängeschild des Kiezes mit seiner markanten Alten Nazarethkirche von Karl Friedrich Schinkel.
Auf dem Boden liegt eine Sektflasche der Marke Bravour, daneben vier leere Fläschchen Feiges Früchtlein, unzählige Kippen und Kronkorken. Aus der Gruppe der Wartenden an der Bushaltestelle tritt ein Mann. Gestützt auf zwei Krücken, sucht er die nahen Büsche auf und uriniert ganz ungeniert und sichtbar dorthin. Besonders im positiven Sinne ist auf dem Leopoldplatz schon lange nichts mehr. „Die Ecke war nie einfach“, sagt Mittes Stadtrat für Ordnung, Carsten Spallek (CDU). Er ist selbst ein paar Straßen weiter aufgewachsen und kennt die Gegend. „Aber inzwischen hat sich hier die Drogen- und Trinkerszene verfestigt. Ist eine Razzia am Kottbusser Tor, kommt auch diese Szene hierher.“
Es ist 10.40 Uhr am Morgen. Etwas weiter abseits steht ein Vierergrüppchen. Mittendrin sitzt Conny – auf der bereits verbogenen Lehne der Parkbank, die Schuhe auf der Sitzfläche. Unter ihr auf dem Boden Kippen und Kronkorken. Es riecht nach Alkohol. Conny ist 47 und obdachlos. Drei Stunden später sind es bereits 20 zum Teil furchterregend aussehende Menschen, die den Platz zu ihrem Wohnzimmer gemacht haben. Bis zu 60 Leute hat Spallek schon gezählt. Unverhohlen wird gedealt, getrunken, uriniert und auch gegrölt. Im Sommer nächtigen Sinti und Roma am Platz. Die Notdurft landet im Gebüsch unmittelbar neben einer Kindertagesstätte auf dem Platz. Das empört nicht nur Anwohner.
„Mittlerweile meiden viele Menschen den Platz“, sagt Nicole Rittstieg. „Das geht auf Dauer nicht.“ Mittes Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD) wohnt wie Rittstieg in der Malplaquetstraße und lebt wie sie gern in dem Viertel. Im Abstieg sieht er den Kiez nicht, auch wenn die Bewohner dort bei Sozialindikatoren wie Haushaltseinkommen oder Bildung „auf dem letzten Platz liegen“, so Hanke. In dem Quartier gebe es Ecken, „wo 35 Prozent der Jugendlichen keinen Schulabschluss haben“. Das Ergebnis sei auch auf dem Leopoldplatz zu sehen. „Natürlich ist die Schmerzgrenze erreicht, wenn neben die Kita gepinkelt wird.“
Aktionen von Anwohnern und Bezirksamt gegen die unliebsame Inbesitznahme des Platzes brachten wenig. Zwar ließ die Kirchenleitung die Büsche beseitigen, und Kinder malten Schilder wie „Bitte nicht pinkeln!“. Zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität an dem Platz trug dies aber nicht bei, und dies wird sich so bald nicht ändern. Jugendliche mit Migrationshintergrund hätten bereits angekündigt, nachts auf dem Platz „aufräumen“ zu wollen, sagt Stadtrat Spallek.
Was damit gemeint ist, erzählt Max*. Sein Gesicht ist geschwollen, rot und blau, an der Augenbraue hat er eine Platzwunde, es fehlen Zähne. Was ihm denn passiert sei? Die Antwort ist eine aus dem Boxsport: „Deckungsfehler“. Fünf Jugendliche hätten ihn auf dem Leopoldplatz überfallen und zusammengeschlagen. Er nimmt es hin.
Jahrelang habe das Bezirksamt Mitte nichts zur Verbesserung der Situation getan, klagt Anwohnerin Rittstieg, und sie meint damit die kleinstmöglichen Verbesserungen an dem Platz wie etwa den Bau einer kostenlosen Toilette. Er wurde zunächst zugesagt, dann aber mit Verweis auf die „fehlende nachhaltige Finanzierung“ versagt.
Drogendealer kann hier ein Beruf sein
Vor wenigen Tagen lud Pentas Bürgerplattform zu einer Versammlung in die Heilandskirche in Moabit ein. Rund 500 Menschen kamen: Deutsche, Türken, Araber, Russen, Afrikaner, Ostasiaten. Auch Nicole Rittstieg war dabei. Sie sorgt sich vor allem um die Kinder, die mittlerweile Drogendealen für einen fast normalen Beruf halten. Ihr sei es wichtig, dass Kinder erst gar nicht mit der Drogenszene konfrontiert würden.
Dass man die Szene in den Griff bekommt, glaubt kaum jemand. So wird am Leopoldplatz eine ganz eigene Stadtkosmetik betrieben. Dealer und Süchtige sollen einen eigenen Platz an der Ecke Turiner Straße bekommen. Mit Gratis-Toilette und Regenschutz. Bürgermeister Hanke hat bereits zugestimmt. Er will Geld aus dem Förderprogramm „Aktive Zentren“ zur Verfügung stellen. Für ein Jahr auf Probe. Ob das Wirkung zeigt, ist fraglich.
„Entscheidend ist, ob Suchtkranke und Familien mit Kindern Seite an Seite leben können, ohne sich dabei in die Quere zu kommen“, sagt Hanke. Conny, die immer noch auf der Bank sitzt und von Nicole Rittstieg von dem Kompromiss erfährt, ist sich sicher: „Das kriegen wir hin. Da geb ich dir 1000 Prozent drauf.“ (*Name geändert)