Nachmittag an der Schönhauser Allee: Die Karawane der Fahrradfahrer wälzt sich über den schmalen, rot markierten Radweg auf dem Gehsteig. Nebenan bummeln Fußgänger entlang der Schaufenster, kreuzen den Radweg, bleiben als Hindernis stehen. Auf der anderen Seite parken Autos, jenseits davon rauscht der Autoverkehr zweispurig in den Feierabend. Bremsen quietschen, Klingeln schrillen, Ärger auf beiden Seiten. „Es ist einfach anstrengend, hier Fahrrad zu fahren“, sagt Chessy Genth. Erst jüngst ist sie gestürzt. „Eine Baustelle ohne Warnschilder, schon war es passiert“, sagt sie.
Wer sportlich fährt, hat schon lange ein Problem auf der Schönhauser Allee. Zu wenig Platz für zu viele Radfahrer – langsame wie schnelle, solche mit Kinderanhänger oder Brötchenkorb oder solche mit Rennlenker und Neon-Lackierung. Ausweichen auf den Gehsteig zum Ärger der Fußgänger? Ausweichen auf die Straße zum Ärger der Autofahrer? Konflikte sind unausweichlich. In Prenzlauer Berg stößt Berlins Fahrrad-Boom an seine Grenzen, nicht nur, weil die Wege zu schmal sind. Hunderte abgestellte Räder blockieren Gehwege, das Umfeld von U- und S-Bahnhöfen, den Vorplatz zum Einkaufscenter.
Kaum Platz im Nahverkehr
An der Ecke Schönhauser Allee/ Eberswalderstraße ist der Radboom in diesen Tagen besonders auffällig – und weil dort besonders viele Radler unterwegs sind, reichen oft weder die vorhanden Radwege noch Mitnahmemöglichkeiten im Nahverkehr aus. Wenn es nach Jürgen Peters aus Glienicke geht, dann sollte es gerade in den S-Bahnen mehr Möglichkeiten geben, um sein Fahrrad mitzunehmen. Er fährt mit dem Fahrrad bis zum S-Bahnhof und von dort aus mit der Bahn in die Stadt, zur Schönhauser Allee: „Ich bezahle 9,50 Euro im Monat, um mein Fahrrad in der S-Bahn zu transportieren. Aber richtig Platz hat man dort dennoch nicht.“
Christin Lehwald findet dagegen die öffentlichen Verkehrsmittel unzuverlässig, deshalb radelt sie täglich. Die 22-Jährige aus Pankow fordert, dass Fußgänger mehr Rücksicht nehmen sollten. „Sie stehen meist auf den Radwegen, sodass sie alles blockieren“, kritisiert Christin Lehwald. Für besonders gefährlich hält sie die Straßenbahn und die komplizierte Kennzeichnung der Fahrradwege an Kreuzungen. „Man blickt gar nicht durch, wo man lang fahren muss, damit man sicher über die Straße kommt“, sagt die Studentin.
Berlinweit hat sich der Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehrsaufkommen nach Angaben der Senatsverkehrsverwaltung binnen zehn Jahren auf heute mehr als 13 Prozent fast verdoppelt. Viel hat die Stadt dafür getan, um diese Entwicklung zu fördern. Berlin verfügt über 650 Kilometer Radwege sowie 100 Kilometer gemeinsame Geh- und Radwege. Auf 125 Kilometern Länge sind gesonderte Radfahrstreifen markiert, außerdem können 80 Kilometer Busspuren von Radfahrern mitgenutzt werden. Es gibt Fahrradstraßen auf denen Autos nur ausnahmsweise fahren dürfen. Zudem dürfen Radfahrer in Berlin vielerorts ganz legal gegen Verkehrsregeln verstoßen. 250 von etwa 800 Einbahnstraßen sind für sie auch entgegen der Fahrtrichtung nutzbar. Bis 2025 will der Senat den Anteil des Radverkehrs auf stolze 18 Prozent erhöhen.
In Ortsteilen wie Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Kreuzberg fahren längst mehr Einwohner mit dem Rad als mit dem Auto. Die Radler haben hier Fußgänger und Autofahrer abgehängt. Der Anteil des Radverkehrs beträgt in Spitzenzeiten 50 Prozent.
Die Infrastruktur ist entsprechend überlastet. „Mehr Radverkehr führt auch zu mehr Konflikten“, sagt Mathias Gille, Sprecher der Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). „Aber auch hier gilt: Radfahrer müssen sich an die Straßenverkehrordnung halten.“ Auf überfüllten Radwegen sei Rücksicht gefordert. Das sieht Ralf Elben auch so. Der 39-jährige Ingenieur ist am Ernst-Reuter-Platz mit dem Rad unterwegs. „Die Menschen, die zu Fuß auf den Bürgersteigen, wie auch den Fahrradwegen unterwegs sind, sehen einfach nicht so genau, wo sie laufen“, sagt er. Adolph Schmidt-Meier macht dagegen die allgemeine Verkehrszunahme für die Probleme verantwortlich. Fast jeden Tag fährt der 60-jährige Charlottenburger 12 Kilometer mit dem Fahrrad. „Die meisten fahren ohne Licht, geben kein Handzeichen und halten sich allgemein nicht an Verkehrsregeln“, sagt der ehemalige Taxifahrer. „Über die Jahre nahm der Verkehr immer mehr zu, so dass es für Radfahrer oft nicht mehr ersichtlich ist, wo man lang fahren muss.“
Die Verkehrsverwaltung sieht die Zunahme der Konflikte ebenfalls, appelliert aber an die Rücksicht. „Wir können nicht Radwege bauen, die so breit sind wie die Landebahn in Tempelhof“, sagt Gille.
Für Radfahrer wie Adrian Künzel, Regisseur aus Prenzlauer Berg, ist die Lösung klar: Der Autoverkehr in der Innenstadt soll reduziert werden, um mehr Platz für die Radler zu schaffen. Damit teilt er die Kritik des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) an der Verkehrsplanung des Landes. Demnach fehlen ausreichend breite Radwege, große Aufstellflächen an Kreuzungen und sichere Stellplätze, bemängelt der BUND im neusten Bericht zur Entwicklung des Radverkehrs. Der nimmt demnach nicht nur zu, auch die Fortbewegungsart der Radfahrer ändert sich. Räder mit Anhängern und immer mehr Elektroräder machen sich den Platz auf Radwegen und Fahrstreifen streitig. Und die Geschwindigkeitsunterschiede zwischen sportlichen Radfahrern und gemächlichen Radtouristen führen zu weiteren Problemen.
Mehr Parkplätze gefordert
Der BUND fordert daher ein radikales Umdenken. An der Schönhauser Allee etwa soll der Radverkehr vom Gehweg auf die Straße. Für den Autoverkehr bliebe nach den Plänen nur eine Fahrspur pro Richtung. An belebten Einkaufsstraßen wie der Schloßstraße in Steglitz oder der Oranienstraße in Kreuzberg sollen Autoparkplätze verschwinden, um Stellplätze für Räder auf der Fahrbahn zu schaffen. Der Vorschlag sieht vor, dass sich der Anteil der Parkplätze für Räder und Autos nach dem Anteil der Nutzung im jeweiligen Bezirk richten soll. Für das Beispiel Oranienstraße in Kreuzberg hieße das: 20 Parkplätze würden gestrichen, um Platz für 160 Räder zu schaffen.
Neue Konflikte sind damit in Sicht. Der Automobilclub ADAC machte jüngst Schlagzeilen, weil er diese auf ganz eigene Art lösen will. Wo immer möglich, sollen sich Rad- und Autofahrer aus dem Weg gehen. Parallel zu Hauptverkehrsstraßen sollen sie sicher und bequem auf Fahrradstraßen fahren – auf eine weitere Markierung von Radstreifen auf den Straßen könne dann verzichtet werden, so der ADAC. Zwei Beispiele in der Innenstadt gibt es schon. An der Linienstraße in Mitte wird parallel zur Torstraße geradelt. An der Prinzregentenstraße in Wilmersdorf parallel zur Bundesallee.
Davon hält die überzeugte Radfahrerin Helga Wesselmann nichts. Die Charlottenburgerin verkaufte 1980 ihr Auto und fährt seither nur noch Rad. Sie findet es gut, wenn man zusammen mit den Autos auf der Straße fährt: „So nehmen uns die Autofahrer wenigstens wahr.“