Ermittlern ist europaweit ein Schlag gegen einen internationalen Schleuserring gelungen. Allein in Berlin wurden acht per Haftbefehl gesuchte Verdächtige gefasst. Sie sollen die Not von Vietnamesen für ihr Millionen-Geschäft ausgenutzt haben.
Die junge Frau kann nicht aufhören zu schluchzen. Im Nachthemd sitzt die Vietnamesin auf einem Bett in Wohnung 1204 irgendwo an der Landsberger Allee. Sie klagt, klammert sich an ihren Teddybären, ihr Körper bebt, und auch die milden Worte der Bundespolizistin können sie nicht beruhigen. Nicht das gewaltsame Eindringen der Polizeieinheit morgens um sechs Uhr hat sie in diesen Schockzustand versetzt, es ist die Angst vor der Zukunft. Die Angst vor den deutschen Behörden, die Angst vor der Abschiebung zurück in die Heimat Vietnam, wo ihre Familie viel Geld aufgebracht hatte, um sie nach Europa schleusen zu lassen. Später wird sie berichten, dass ihr die Hintermänner schnell den Pass abgenommen hatten, als sie in Berlin angekommen war.
Im gleichen Raum sitzt ein Landsmann, um die 40 Jahre, mit Handschellen gefesselt. Er gilt als einer der Drahtzieher in Berlin. Um den Machenschaften der Schleuserbande Einhalt zu gebieten, haben Beamte der Bundespolizei, darunter Spezialkräfte, am Dienstag in den Morgenstunden einen bundesweiten Schlag gegen eine international agierende vietnamesische Organisation geführt und dabei 18 Wohnungen in Lichtenberg, Marzahn und Hellersdorf, Brandenburg und Thüringen durchsucht. In der Hauptstadt, München und Eisenhüttenstadt wurden zudem insgesamt zehn Haftbefehle vollstreckt. Mit dieser Form der Kriminalität werden jedes Jahr Millionen verdient.
Europaweites Ermittlungsverfahren
Die Bundespolizei ermittelt seit September 2010 im Auftrag einer Spezialabteilung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität der Staatsanwaltschaft Berlin gegen die Bande. Die bisherigen Ermittlungen richten sich gegen 22 Beschuldigte, die im Verdacht stehen, insgesamt 72 vietnamesische Staatsangehörige von Deutschland über Belgien oder Frankreich nach Großbritannien geschleust zu haben. Zeitgleich wurden gegen die Schleuser-Organisation auch Maßnahmen in Frankreich, Großbritannien, Tschechien und Ungarn durchgeführt. Der gemeinsamen europaweiten Aktion war eine Koordinierung über EuroJust und EuroPol vorangegangen. Die Einsatzmaßnahmen wurden von Vertretern des Bundeskriminalamtes und Vertretern von EuroPol in Berlin begleitet. Zahlreiche Beweismittel in Form von Unterlagen und Aufzeichnungen sowie Computertechnik und Mobiltelefone wurden beschlagnahmt.
Die Berliner Staatsanwaltschaft beobachtet das Problem der Schleuser-Kriminalität seit geraumer Zeit sehr genau. „Bis zu 25.000 Euro bezahlen die Menschen, um nach Europa zu kommen“, so Staatsanwalt Frank Michael Heller. „Sie gelangen per Flugzeug nach Moskau, dann geht es weiter nach Ungarn oder Tschechien bis nach Frankreich und Deutschland. Ziel ist in den allermeisten Fällen Großbritannien, wo die Vietnamesen in illegalen Cannabisplantagen arbeiten.“ Die Aufgabe bestehe den Erkenntnissen nach darin, für Belüftung, Bewässerung und Ernte des Rauschgiftes zu sorgen – mit einem für die aus Vietnam stammenden Menschen unglaublichen finanziellen Ertrag. „In ihrer Heimat beträgt der Verdienst um die 500 Euro jährlich, bei dieser illegalen Tätigkeit sind es 80.000 Euro im Jahr“, so Staatsanwalt Heller weiter. Nicht selten würden die Menschen auch für den Handel mit unverzollten Zigaretten an den Straßenecken eingesetzt.
Aber auch mit den eigentlichen Schleusungen lassen sich gigantische Gewinne erzielen. „Es liegen Erkenntnisse durch intensive Ermittlungen vor, wonach allein in den Sommermonaten des vergangenen Jahres knapp 1000 Vietnamesen nach Berlin geschleust und anschließend in andere Länder gebracht wurden. Wenn man bedenkt, dass pro Schleusung bis zu 25.000 Euro gezahlt werden, kann man die Gewinnspanne für die Organisation erahnen“, so Marco Zack, Leiter der Bundespolizeiinspektion Kriminalitätsbekämpfung in Berlin. Das Geld werde entweder direkt an die Mittelsmänner gezahlt oder auch in Teilbeträgen pro Reiseabschnitt von Verwandten oder Freunden direkt auf eine Bank in Vietnam. „Dies ist die für die Bande sicherste Methode, weil das Geld im Land bleibt.“
In Berlin erfolgt die Unterbringung in angemieteten Unterkünften, und die Schleusungswilligen verdingen sich zunächst im illegalen Zigarettenhandel. Anschließend erfolgt die Ausschleusung mit dem Fahrzeug von Berlin über Belgien oder Frankreich in Richtung Großbritannien, wo sich die Menschen eine Aufnahme in der großen vietnamesischen Community erhoffen. Der Weg dorthin ist in manchen Fällen aber auch sehr gefährlich. Um unentdeckt die Grenzen an der Kanalküste passieren zu können, werden die Menschen manchmal in Container eingepfercht, oder aber sie springen auf Lkw, fahren auf den Dächern mit, um an der vereinbarten Stelle wieder von dem Fahrzeug zu springen. Ermittler haben aber auch schon regelrechte Zwischenlager in Ostblock-Ländern entdeckt, in denen die Menschen bei Regen und Kälte in Zelten hausen mussten, die in den Boden eingelassen sind.
Die Wohnung, in der die 15-Jährige und der Schleuser angetroffen werden, ist spartanisch eingerichtet. Keine Gardinen an den Fenstern, schmutzige Scheiben geben den Blick auf den Fernsehturm am Alexanderplatz frei. Die beiden teilen sich den einzigen Raum mit einem Landsmann. In der Küche vertrocknen die Frikadellen vom Vorabend auf dem Herd, auf einem kaputten Regal stehen Lebensmittel aus dem Asia-Markt, ein Fernseher thront auf einer Anrichte, umgeben von drei einfachen Betten. „Dieser Lebensstandard ist aber nicht Zeichen dafür, dass die Menschen auch wirklich arm sind“, so Bundespolizist Meik Gauer. „Sie sind extrem sparsam, vermeiden jede unnötige Art des Geldausgebens und sparen alles für ein späteres Leben zu Hause.“ Nicht selten erstünden die Vietnamesen nach drei, vier unentdeckten Jahren in englischen Cannabisplantagen in ihrer Heimat wahre Villen und lebten den Rest ihres Lebens von dem Ersparten. Eine Schleuserbanden-Chefin legte ihren Verdienst in Immobilien an und kaufte sich eine ganze Hotelkette in Hanoi.