Im Februar ist ein krebskranker Junge gestorben, dem zweieinhalb Monate zuvor in der Berliner Charité eine Überdosis eines Medikaments verabreicht wurde. Die Uni-Klinik räumt den Behandlungsfehler ein, bestreitet aber einen Zusammenhang mit dem Tod. Das sieht die Mutter des Verstorbenen anders.

Die Berliner Charité wird von Angehörigen eines verstorbenen Patienten zivilrechtlich verklagt. Zu diesem Schritt haben sich Silvia A. und ihre Anwältin Michaela Bürgle vergangene Woche entschlossen, nachdem ein außergerichtlicher Einigungsversuch zwischen beiden Parteien gescheitert war. Silvia A. ist die Mutter des am 28. Februar dieses Jahres verstorbenen Sebastian A.. Ziel der Klage ist eine „angemessene Entschädigung für den Tod des Kindes“, so die Anwältin. Die Charité hat bereits 15.000 Euro gezahlt. Die Summe ist nach Meinung der Anwältin „beschämend niedrig“. Bürgle geht von einem sechsstelligen Betrag aus, gleichwohl „der Wert eines Menschen nicht bezifferbar“ sei.

Die Charité bedauert in einer Stellungnahme außerordentlich das schwere Schicksal, dass die Familie A. zu tragen hat und spricht den Eltern ihr Mitgefühl aus.

Überdosis eines Krebsmittels verabreicht

Der 14-jährige Sebastian A. hatte an einem Gehirntumor gelitten und war im Dezember 2008 in der Charité behandelt worden. Dabei hatte ein Chirurg ihm am 8.?Dezember eine Überdosis des Chemotherapeutikums V-P16 verabreicht. In den Folgetagen, so schildert es die Anwältin, habe sich der klinische Zustand des Patienten rasch verschlechtert, er wurde geistig verwirrt, sein Atem flachte ab. Sebastian A. fiel ins Koma und musste ab dem 15.?Dezember künstlich beatmet werden. Silvia A. ließ ihren Sohn zurück in die Holwede-Klinik in Braunschweig verlegen. Am 4.?Februar stellten Ärzte dort seinen Hirntod fest, am 28.?Februar schließlich blieben Sebastians Herz und Kreislauf für immer stehen.

Anwältin Bürgle spricht von einem groben Dosierungsfehler des Arztes, von nachweislichen groben Organisationsdefiziten der Klinik und von Aufklärungsmängeln hinsichtlich der Injektion des Chemotherapeutikums namens VP-16.

Bürgle sagt, dass Patient und Angehörige zwar einverstanden waren mit der intraventrikulären Gabe des VP-16. „Niemand hatte ihnen jedoch gesagt, dass diese Methode der Verabreichung in die Hirnkammer arzneimittelrechtlich noch gar nicht zugelassen ist.“ Sie befinde sich im Stadium der klinischen Studie. „Das heißt, Wirkung und therapeutische Wirksamkeit stehen noch gar nicht fest, sondern werden experimentell erprobt, worüber man Patienten natürlich aufklären muss“, so Bürgle weiter.

Charité weist Behandlungsfehler als Todesursache zurück

Bürgle beurteilt die Chancen einer zivilrechtlichen Klage als „ausgesprochen aussichtsreich“. Charité-Sprecherin Kerstin Endele sagt: „Es ist korrekt, dass es hier zu einer Überdosierung gekommen ist, die offen und transparent mit den Eltern und der zuweisenden Klinik kommuniziert und schriftlich dokumentiert wurde.“ Unmittelbar danach sei an dem Patienten eine Spülung vorgenommen, um das überdosierte Medikament wieder auszuwaschen.

Den Vorwurf der Anwältin, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Tod des Kindes gibt, weist die Charité zurück. „Die weiter behandelnden Ärzte gehen auf Grund ihrer Befunde davon aus; dass das Kind an seiner rasch fortschreitenden Tumorerkrankung verstorben ist“, sagt Kerstin Endele. „Einer von den Ärzten vorgeschlagenen Obduktion haben die Eltern nicht zugestimmt.“ Der Anwältin der Familie sei deshalb ein Schlichtungsverfahren bei der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen angeboten, jedoch ohne positive Resonanz.

Bürgle sagt, ihre Mandantin Silvia A. halte die Argumentation, ihr Sohn sei ohnehin verstorben, für unzumutbar, „zumal nicht erklärlich ist, weshalb man in Kenntnis einer tödlichen Prognose einen derart hohen, den Patienten belastenden therapeutischen Aufwand betrieben habe“.

15.000 Euro an die Familie gezahlt

Allerdings hat die Charité für die „erhebliche Überdosierung, die nicht zum Tod des Kindes geführt hat, aber zu einer ernsthaften und schwerwiegenden Belastungssituation“, bereits eine Ausgleichszahlung in Höhe von 15.000 Euro gezahlt. „Eine abschließende Vereinbarung ist wegen der Vorstellungen der Anwältin der Familie zur Höhe einer Ausgleichszahlung gescheitert“, sagt Charité-Sprecherin Endele. Wegen des laufenden Verfahrens könnten keine konkreteren Angaben gemacht werden.

Anwältin Bürgle ist außerdem der Ansicht, dass die organisatorischen Strukturen der Klinik und das Fehlen eines planvollen und sicheren Medikamente-Managements die individuelle Fehlleistung begünstigt und ermöglicht hätten. Endele hebt dagegen hervor, dass in der Charité ein ‚risk management system’ bestehe, das Beinahefehler wie auch Fehler auswertet und zu Änderungen im organisatorischen Ablauf führen kann. „Um solche Vorkommnisse in der Zukunft zu verhindern, wurde veranlasst, dass nur noch Onkologen und nicht die Chirurgen dieses Medikament verabreichen dürfen.“