Gedenken

Ein Stolperstein für einen mutigen Mann

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Foto: Dirk von Nayhauß / privat

Nichts erinnerte bisher an Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, nicht einmal ein Grabstein. Doch nun gibt es einen „Stolperstein" vor der Stierstraße 4 – eine Messingplatte auf dem Bürgersteig. Ein kleines, großes Zeichen, dass sein Leid und das millionenfache Leid anderer nicht vergessen sind.

Es ist ein grausamer Fund, den ein Angler im Juli 1933 im Bammellochteich an der Chausseekreuzung Löwen/Falkenberg macht, er entdeckt einen Toten – aufgedunsen, entstellt, offensichtlich ermordet. Der Angler alarmiert die Polizei. Die Zeitung „Breslauer Neueste Nachrichten“ meldete damals: „Die Leiche ist unkenntlich, da sie etwa acht bis vierzehn Tage im Wasser gelegen hat. Sie war an Händen und Füßen mit einem zwei Millimeter starken Draht gefesselt und mit einem 96 Pfund schweren Stein beschwert. Es besteht die Möglichkeit, dass der Mann gefesselt lebendig ins Wasser geworfen worden ist, was jedoch bisher einwandfrei nicht festgestellt werden konnte. Zweckdienliche Angaben erbittet die Kriminalpolizei Breslau, fünftes Kommissariat.“

Der Tote war mein Großvater, Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons. Er war 58 Jahre alt, als er ermordet wurde – verheiratet, Vater eines erwachsenen Sohnes und von zwei kleinen Kindern, zwei und sieben Jahre alt.

Die Polizei im damaligen Niederschlesien begann mit ihren Ermittlungen (Aktenzeichen 3 J 658/33), doch rasch erklärt sich die Berliner Gestapo für allein zuständig. Als die Frau meines Großvaters nach den wahren Umständen seines Todes forscht, wird sie vorgeladen. Die Gestapo zeigt ihr Fotos der entstellten Leiche und zwingt sie zu völligem Stillschweigen: „Sonst kommst du auch dran.“ Vermutlich entkam sie nur knapp dem Konzentrationslager.

Im Nachhinein ist es nicht überraschend, dass mein Großvater von den Nazis ermordet wurde. Im Nachhinein wirkt sein Widerstand sogar naiv und blauäugig. So warf er Hitler vor, dass er „skrupellos eine derartige Anzahl vorbestrafter Menschen mit zweifelhaftem ethischem, moralischem Fühlen und Denken in höheren und höchsten Parteiführerstellen duldet!“. Das und mehr fand sich in der Broschüre „Führer des Dritten Reichs!“ (Auflage: rund 60.000), die mein Großvater unter dem Pseudonym Clemens von Caramon verfasst und ab 1931 mit seinem eigenen Geld verlegt hatte. Das Titelblatt zeigt einen Nazi im Gefängnis, hinter Gittern.

Auf 30 Seiten wird das kriminelle Vorleben einer ganzen Reihe von Naziführern beschrieben. Zum Beispiel Wilhelm Rilgers, „einer der führenden Leute der SA in Brandenburg“. 13 Diebstähle werden aufgelistet, die den SA-Führer drei Jahre ins Zuchthaus und acht Jahre drei Monate ins Gefängnis gebracht hatten. Mit dieser Schrift im Gepäck reiste mein Großvater durch Deutschland und hielt öffentliche Vorträge – auch nach der Machtergreifung. In den Tagen und Wochen nach dem 30. Januar 1933 räumte das Regime auf, der Terror begann, auch in der Stierstraße 4 in Berlin. Am 7. März 1933 stürmten gegen 22 Uhr acht uniformierte SA-Männer mit vorgehaltener Waffe in die Friedenauer Wohnung. Die Wohnungstür wurde samt Rahmen aus der Verankerung gerissen. Den sie suchen, kriegten sie noch nicht, er befand sich gerade in Düsseldorf. Von dort schrieb er am 12. März an seine Frau Erika: „Fühle mich nicht gut. Die kolossale Seelenanspannung nimmt einen mit, das ständige Gefühl, jetzt kommen sie und holen dich!“ Erika und Stanislaus erwägen, in die USA zu emigrieren.

Zunächst aber erstattet Erika Anzeige bei der Polizei, die ihr Schutz zusagt. Dennoch wiederholt sich der Vorfall innerhalb weniger Tage zweimal. Deutlicher kann eine Warnung nicht sein, aber Stanislaus, ein ehemaliger Offizier, führte seinen einsamen Kampf fort – er hatte keine Mitstreiter. Stanislaus war zeitlebens ein Dickkopf, das wurde ihm nun zum Verhängnis.

Geboren wurde er 1875 auf Schloss Baumgarten in Schlesien. Sein Vater saß 13 Jahre lang (1874–1887) für die Zentrums-Partei im deutschen Reichstag. „Stani“ besuchte eine Volksschule, was damals für einen Adeligen ungewöhnlich war. Danach Kadettenanstalt und Offizier bei der Kavallerie. Nach dem Ersten Weltkrieg vermittelte er Geschäfte in der Industrie, auch für Hugo Stinnes, und schrieb Ende der Zwanzigerjahre politische Artikel, er selbst war deutschnational gesinnt. Ab 1931 engagierte er sich gegen die Nazis. Am 25. Juni 1933 sendete er seiner Frau Erika aus Breslau das letzte Lebenszeichen: „… und dann wird man mich holen. – Sie werden sich aber hüten, sowie man ihnen die Zähne zeigt.“ Am nächsten Tag wurde er in Breslau von der Polizei in sogenannte Schutzhaft genommen und an die Staatspolizeistelle in Oppeln überwiesen. Hier verliert sich die Spur, doch kann später nachgewiesen werden, dass er sich zur Tatzeit in Polizei-Haft befand. Er wurde auf dem Stroschwitzer Friedhof, nahe dem Ort des Verbrechens, beigesetzt.

Seine Frau stand vor dem Nichts, sie war ohne jegliches Einkommen. An wen sie sich auch wandte, man ließ sie überall ins Leere laufen. Schließlich richtete sie am 28. Mai 1934 einen 16-Seiten-Brief an Adolf Hitler, an den „Hochgeehrten Herrn Reichskanzler“. Mit welchem Ekel muss sie dieses „Hochgeehrt“ niedergeschrieben haben. In allen Details schilderte sie die Tat und forderte Schadenersatz. Keine Antwort. Doch sie ließ nicht locker. Schlussendlich, dreieinhalb Jahre nach der Ermordung, wurde im Dezember 1936 für sie und die beiden Kinder eine monatliche Rente von 350 Reichsmark gewährt. Die Erklärung der Nazis für den Gnadenerweis war umso zynischer: Sie bezeichneten den Mord als „Betriebsunfall“, als einen Übergriff untergeordneter Behörden.

Bis heute weiß offiziell niemand, wer für die Tat verantwortlich ist, niemand wurde verurteilt.

Dirk von Nayhauß (44) arbeitet als freier Journalist und Fotograf in Berlin