Wildtiere

Zahl der Wildschweine in Berlin nahezu halbiert

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Tanja Laninger

Auf rund 5000 Wildschweine schätzt der Wildtierexperte des Senats Dirk Ehlert gegenwärtig den Bestand in den Berliner Wäldern. Das ist deutlich weniger als vor einem Jahr. Ob Jäger öfter zum Gewehr griffen, warum Füchse Baustellen lieben und wo sich Waschbären besonders wohlfühlen - Morgenpost Online war mit Ehlert auf Patrouille.

Instinktiv hält die Frau ihre Handtasche vor den Körper und weicht zurück. Vor ihr am Waldrand steht breitbeinig eine Sau und grunzt. Sie rührt sich keinen Millimeter. Die Frau geht langsam weiter Richtung Kleingartenkolonie im Jagen 84 in Charlottenburg. Die Sau senkt den Kopf, schnappt sich einen Apfel und beißt zu. Hinter ihr hüpfen Frischlinge durchs Unterholz.

"Schöne Distanz, gut gemacht", ruft Derk Ehlert. Er redet nicht mit der Spaziergängerin. Er meint das Tier. Die Sau hat Abstand zum Menschen gehalten und ihren Nachwuchs gewarnt - das ist richtig, kommt in Berlin nicht immer vor. Viele Berliner füttern die Tiere an. Borstenvieh wie auch Füchse verlieren die Scheu und nähern sich auch jenen, die Angst oder gesunden Respekt vor ihnen haben. Dann klingelt Derk Ehlerts Telefon, manchmal zehnmal am Tag. Der 42-Jährige ist Wildtierexperte der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Sein Job heißt: Aufklärung.

Berliner sind cool und wollen den Tieren helfen

"Die Leute rufen an, weil sie Fragen haben", sagt Ehlert. "Sie wollen selten, dass wir Tiere töten, sondern oft, dass wir den Fuchs oder das Wildschwein, den Waschbären oder das Kaninchen woanders hinbringen. So gesehen sind die Berliner cool und wollen den Tieren nur helfen", sagt Ehlert.

Doch Streicheln, Füttern - das geht zu weit. Die Ordnungswidrigkeit kann bis zu 5000 Euro Strafe kosten. Und das Leben des Tieres. "Angefütterte Tiere werden Problemtiere, die wir schießen müssen, wenn sie regelmäßig intensiv genutzte Flächen wie Spiel- oder Sportplätzen zerstören oder handzahm sind und sich wie Haustiere streicheln lassen", sagt Ehlert.

So wurden im Jagdjahr 2008/2009 insgesamt 3035 Wildschweine erlegt, dazu kamen 401 Tiere, die bei Unfällen oder aus anderen Gründen starben - das sogenannte Fallwild. Zum Vergleich: Im Vorjahr wurden 1757 Wildschweine erlegt, also 57 Prozent weniger als zuletzt.

Die Zahl der Wildschweine sinkt

Doch diese Zahlen sind nicht der einzige Grund für eine ganz neue Entwicklung: Der Wildschweinbestand in der Stadt ist im Vergleich zum Vorjahr vermutlich fast um die Hälfte zurückgegangen, sagt Derk Ehlert - von rund 8000 auf 5000 Tiere. Das lag auch an dem kalten Winter und einem mangelhaften Nahrungsangebot. Es gab zu wenige Eicheln. "Solche Bestandeinbrüche sind normal", betont Ehlert. " Sie kommen etwa alle drei Jahre vor." Im kommenden Winter sehe es wieder anders aus, da schon jetzt auf dem Waldboden viele Eicheln liegen.

Trotzdem zieht es die Rotten momentan in die Stadt. "Die Hitze sorgt für Bewegung", sagt Ehlert. "Die Wildschweine finden nur mit Mühe Nahrung im trockenen Waldboden." Sie ernähren sich von Engerlingen, Regenwürmern, Schnecken und Pilzen. Die gedeihen besser in gewässerten Böden, also in Klein- und Vorgärten.

Abgesehen von Ehlert und den Mitarbeitern der Berliner Forsten - richtig kümmert sich um Berlins Borstenvieh niemand. Es gibt zwar rund 30 Stadtjäger, doch die arbeiten ehrenamtlich. Mitarbeiter der Berliner Forsten, so der Leiter des Forstamtes Grunewald, Elmar Kilz, fordern seit Langem eine Stadtförsterei, in der sich hauptberufliche Jäger oder Förster rund um die Uhr um alle innerstädtischen Wildtiere kümmern.

Füchse lieben Kinder-Spielplätze

Dazu gehören auch Füchse. Tatort: ein Spielplatz in Tempelhof. Ehlert erhält seit Wochen Anrufe von Polizisten und Anwohnern, die auf dem Alboinplatz einen Fuchs gesichtet haben. Sie fürchten sich vor Tollwut und Bandwürmern. Eine Sorge, die in Berlin bis auf ein Restrisiko unbegründet ist: Seit mehr als 20 Jahren wurde die Fuchstollwut nicht mehr registriert, seit 13 Jahren kein Fuchs mit Bandwürmern mehr gefunden.

Ehlert sitzt auf dem Spielplatz, ein Kind rutscht, ein anderes schaukelt, das dritte dreht sich auf einer Drehscheibe im Kreis. "Auf der Drehscheibe sonnt sich auch der Fuchs", sagt Ehlert. Er hat ihn am Wochenende gesehen und kann Entwarnung geben. "Das ist eine ganz gesunde Fuchsmutter mit gepflegtem Fell. Sie wirkt fit." Ehlert betrachtet die Tiere genau. Denn viele Füchse leiden an Räude. Von der Hautkrankheit können Haustiere wie Hunde geheilt werden - Wildtiere aber können daran zugrunde gehen.

Außerdem grassiert im Südwesten unter Berliner Füchsen die Staupe, eine Tierseuche. Auf Menschen greift sie nicht über, aber auf Hunde, die nicht geimpft sind.

"Wenn wir einen an Staupe im Fortgeschrittenenstadium mit Lähmungserscheinungen erkrankten Fuchs finden, ist es besser, ihn zu erlegen, um sein Leiden zu verkürzen", sagt Ehlert. Infizierte Füchse stellen den Großteil der 321 erlegten und als Fallwild aufgefundenen Tiere.

Es gibt 1800 bis 1900 Fuchsreviere in der Stadt, doch der Bestand hat sich in den von Staupe betroffenen Stadteilen um 60 bis 70 Prozent reduziert. Ehlert erwartet, dass die Seuche in den kommenden Monaten weiter durch Berlin wandert. Das sei kein Grund zur Panik. "Staupe ist eine natürliche Seuche. Der Gesamtbestand wird sich erholen, sobald die Füchse Antikörper gebildet haben." Im Schnitt werden Füchse, wenn sie ihr gefährliches erstes Lebens- und Lehrjahr überstehen, bis zu drei Jahre alt. Der älteste Berliner Stadtfuchs wurde sieben, "das konnte man an seinem Gebiss erkennen", sagt Ehlert.

Das Verhalten der Füchse hat sich in den vergangenen Jahren geändert. "Sie werden frecher, lassen sich am Tage blicken. Sie haben sich an die Stadt und die Menschen gewöhnt." Sie beziehen sogar Häuser: Einer lebt im Neubau am Museum für Naturkunde, ein anderer am Tränenpalast. Bauarbeiter hatten Ehlert gerufen, weil sie sich Sorgen um die Sicherheit des Tieres machten. Ehlert sollte den Fuchs fangen und in den Wald bringen. "Das mache ich nicht", sagt Ehlert. "Der Wald ist voll, und Stadtfüchse leben in der Stadt." Der Tränenpalast-Fuchs sei so flink über die Treppen gerannt, er kenne Versorgungsschächte und Verkleidungslücken vermutlich besser als der Architekt.

Der Mensch mag Bauarbeiten als stressig empfinden - der Fuchs nicht. Für ihn ist ein Rohbau ein stressfreies, reproduktionssicheres Umfeld. Genau wie Spielplätze, Kliniken und Altenheime. Denn dort gilt Haus- oder Platzverbot für den Fuchsfeind Nummer eins: für den Hund.

Mit dem neuen Schuljahr kommen auf Ehlert viel mehr Nachfragen zu. "Automatisch stoßen Kinder, Lehrer und Erzieher wieder auf Füchse und die Reste ihrer Beute und rufen beim Wildtiertelefon der Forsten oder bei uns an."

Habichte sind ungeniert

Auf dem Weg zurück zum Auto bremst Ehlert vor einem Haufen Federn. Es sind Ringeltaubenfedern. Ehlert hält eine gegen das Abendlicht. Der Kiel ist unversehrt. "Das war bestimmt ein Habicht", sagt der Ornithologe. Ein Fuchs hätte den Kiel angebissen. Ein Habicht aber zieht die Federn glatt heraus - viele Vögel haben typische Rupfungsarten.

Circa 80 Habicht-Paare brüten in Berlin, in Parks wie dem Tiergarten oder in Hinterhöfen. Sie lassen sich weder bei der Paarung noch zur Brutzeit von Spaziergängern stören. Noch vor 20 Jahren, erinnert sich Ehlert, musste man ein Tarnzelt aufschlagen, um sie zu beobachten. Habichte fressen nicht nur Tauben, sondern, genau wie der Fuchs, auch Kaninchen.

Kaninchen untergraben Böschungen

Kaninchen haben kein ruhiges Leben in Berlin. Anfang der 90er-Jahre hat die sogenannte Kaninchenseuche (Chinaseuche) den Großteil ausgerottet. "Die Bestände haben sich nur lokal erholt", sagt Ehlert. Hochburgen sind die Bezirke Charlottenburg-Wilmersdorf, Mitte mit dem Tiergarten und Hohenschönhausen. Ehlert erhält oft Anrufe von Passanten, die fürchten, ein Kaninchen könnte vor ein Auto hoppeln. "Ja, dann ist es eben so", antwortet Ehlert, "mit dem Risiko muss jeder Stadtbewohner leben." In den Wald trägt er sie jedenfalls nicht.

Oft richten Kaninchen Schäden an Böschungen von Bahnanlagen an, graben Tunnel und Röhren. Dann werden die Bezirksämter aktiv. So hatte man an der A 100 bei einer Fußgängerbrücke Angst, dass die Tiere das Fundament untergraben würden und die Böschung zu erodieren begann. Das Bezirksamt rief den Jäger. Der ist Spezialist, kommt entweder mit einem Frettchen, das die Tiere aus dem Bau treibt und erlegt, oder mit einem Greifvogel, der aus der Luft zuschlägt. Im vergangenen Jagdjahr wurden 539 Tiere zur Strecke gebracht.

Waschbären lieben Wasser

Letzte Station Spandau. Ehlert fährt an die Falkenhagener Straße. Haus steht an Haus, Auto an Auto, Straße und Gehwege sind gepflastert oder versiegelt. "Meint man nicht, dass hier Waschbären leben", sagt Ehlert, "und doch ist Spandau ein Dorado genauso wie Marzahn-Hellersdorf."

Rund 200 Waschbären-Familien leben um Oberhavel und Wuhle - Waschbären lieben Wasser. Sie können sich aber auch mitten in der City einrichten. So wie Waschbär Alex, der den Namen des Hotels Park Inn auf dem Alexanderplatz wörtlich nahm und seit mindestens einem Jahr in der Tiefgarage lebt.

In Spandau schlendert Ehlert in einen Hinterhof. Unter den Bäumen geschützt hinter einem Zaun haben Katzenfütterer Körbchen aufgestellt - die gelegentlich von Waschbären bewohnt werden. "In dieser Jahreszeit sind sie besonders aktiv", sagt Ehlert. "Sie ziehen mit ihren Jungtieren umher und zeigen ihnen, wie man Obstbäume plündert." Anwohner stören sich an den Rabauken auch, weil die Tiere unter die Hausdächer klettern, die Dämmung aufreißen und andere Schäden verursachen. "Deswegen stellen wir aber noch lange keine Lebendfalle auf", sagt Ehlert. Vielmehr berate er die Hausbesitzer, wie sie ihr Eigentum durch Umbau vor den Tieren schützen können. Und er passt die Katzenfütterer ab und bittet sie, kein Futter für Wachbären auszulegen. "Denn zahme Wildtiere würden wir am Ende nicht fangen, sondern erschießen." Das Argument überzeugt.

Das Berliner Wildtiertelefon ist unter Tel. (030) 64 19 37 23 zu erreichen.