Den Anwohnern an der Hochbahn in Kreuzberg soll bald geholfen werden. Die BVG will nun mit einem neuen System versuchen, den Zügen der U1 das Quietschen abzugewöhnen. Ab Mitte September will das Verkehrsunternehmen eine Schmieranlage erproben, die die Lärmbelastung vermindern soll.
Trotz der Hitze schläft Jost Welter in diesen Tagen fast nie bei offenem Fenster. „Das ist die einzige Chance, nachts zur Ruhe zu kommen“, sagt der 48-Jährige. Auch Peter Eichborn und seine Frau fühlen sich gestresst. „Der Lärm wird immer schlimmer“, sagt der Kreuzberger, der an der Neuenburger Straße wohnt. Grund für die Ruhestörung sind in diesem Fall mal nicht lärmende Autos oder allzu feierlustige Nachbarn, sondern Züge der U-Bahn, die sich auf Viadukten durch Kreuzberg winden. Und an fast jeder der zahlreichen engen Kurven erzeugen die Züge der U1 ein schrilles Geräusch, das die einen als „grässlich“, die anderen als „nervtötend“ bezeichnen.
Die Verkehrsbetriebe (BVG) wollen nun mit einem neuen System versuchen, der U-Bahn das Quietschen abzugewöhnen. Ab Mitte September will das Verkehrsunternehmen eine Schmieranlage erproben, die die Lärmbelastung vermindern soll. Der Einsatz von Schmiermitteln war bislang in Berlin tabu, da befürchtet wurde, dass dadurch die Wirkung der Zugbremsen vermindert wird. Jetzt gab die Technische Aufsichtsbehörde grünes Licht für den Test eines computergesteuerten Systems, das bereits erfolgreich im Straßenbahnnetz von Dortmund und Zürich eingesetzt wird. „Wir haben inzwischen drei solcher Anlagen im Einsatz, die sehr hilfreich sind“, sagt Kurt Otto, Bahnbauleiter bei der Dortmunder Verkehrsgesellschaft DSW21.
Physikalisch bedingt scheint das unangenehme Geräusch bei U-Bahn- wie S-Bahn-Zügen unvermeidlich zu sein. Es entsteht, wenn Schienenfahrzeuge durch eine enge Kurve fahren. Dann will sich das Rad im Kurveninneren wegen der starren Achse genauso schnell drehen wie das Rad am äußeren Kurvenradius. Die Folge: Das „innere“ Rad dreht leicht durch, Metall schleift über Metall. Bei Trockenheit fehlt auf der Schiene ein natürlicher Schmierfilm – das Quietschgeräusch wird lauter und am Ende beinahe unerträglich. Was in den Tunneln nur die Fahrgäste stört, nervt bei der Fahrt über die Berliner Hochbahn-Viadukte zehntausende Anwohner.
Einiges haben die Berliner Verkehrsbetriebe in der Vergangenheit bereits versucht, damit ihre U-Bahn-Züge leiser durch die Stadt fahren. Hoffnung machte den Anwohnern der U1 dann vor allem die Ankündigung der BVG, bei der Sanierung der 107 Jahre alten Hochbahntrasse zwischen Hallesches Tor und Kottbusser Tor „Flüstergleise“ zu verlegen. Doch nach Ende der Bauarbeiten war die Ernüchterung groß. Viele Anwohner empfinden das Quietschgeräusch jetzt als noch lauter als zuvor. Am Wassertorplatz formierte sich gar eine Bürgerinitiative, die mit einer Unterschriftensammlung die BVG zum raschen Handeln aufforderte.
U-Bahn-Bauchef Uwe Kutscher sucht schon seit einiger Zeit nach einer Erklärung für die von vielen Anwohnern als stärker empfundene Lärmbelastung. „Objektiv gesehen ist das U-Bahn-Quietschen nach der Sanierung der Hochbahnstrecke nicht lauter geworden“, sagt der Ingenieur. Vorwürfe, dass bei den Arbeiten gepfuscht oder ein falsches Verfahren angewendet wurde, weist der Bauexperte entschieden zurück. Viele würden den Begriff „Flüstergleise“ missverstehen. So würden die hochelastischen Gummimatten, auf denen die Gleise neu verlegt worden sind, Erschütterungen verringern, die bei einer Durchfahrt der tonnenschweren Züge entstehen. „Das Schleifgeräusch entsteht aber am Schienenkopf und kann durch die Art des Gleisunterbaus nicht beeinflusst werden“, sagt Kutscher. Doch warum wird das Quietschen lauter als zuvor? Eine Antwort darauf weiß Kutscher derzeit noch nicht. Denkbar sei, so der Ingenieur, dass nach dem Wegfall tiefer Vibrationsgeräusche die hohen Kreisch-Töne besonders „hervorstechen“ und damit stärker als zuvor von den Anwohnern wahrgenommen werden.
Am Wassertorplatz ließ die BVG als Sofortmaßnahme gegen den nervenden Lärm eine Sprinkleranlage aufbauen. Bevor ein Zug durchfährt, werden die Gleise mit Wasser benetzt, gemischt mit Staub entsteht so ein „natürlicher“ Schmierfilm, der die Reibung zwischen Rad und Schiene und damit das Quietschen verringert. Solche Beregnungsanlagen hat die BVG zuvor bereits auf Viadukten am Schlesischen Tor (Linie U1) und an der Dennewitzstraße (Linie U2) bauen lassen. Die durchaus lärmmindernden Beregnungsanlagen haben aber zwei Nachteile: Sie sind teuer im Betrieb – schon allein durch den Wasserverbrauch entstehen Kosten von rund 10.000 Euro pro Jahr – und sie können nicht im Winter eingesetzt werden.
Rettung im Kampf gegen das Quietschen soll nun ein elektronisch gesteuertes Schienenschmiersystem eines nordrhein-westfälischen Herstellers bringen. Das Besondere daran: Ausgelöst durch einen elektrischen Impuls eines herannahenden Zuges wird eine Pumpe in Gang gesetzt, die durch winzige Düsen eine sehr genau dosierte Menge Schmiermittel auf das Gleis aufbringt. Die weißliche Paste, deren Zusammensetzung der Hersteller geheim hält, soll die Vorgaben erfüllen, die sich bislang gemeinsam nicht erfüllen ließen. Einerseits schmiert sie den Schienenkopf und verhindert so das Quietschen, andererseits ist sie so zäh, dass der Zug beim Bremsen nicht ins Rutschen kommt. Die erste Schmieranlage – Kosten: etwa 15.000 Euro – soll ab Mitte September an der Zossener Straße (Höhe Patentamt) getestet werden. Der Kreuzberger Peter Eichborn wäre froh, wenn sich die neue Technik bewährte. Denn er wohnt nicht weit entfernt von der Teststrecke.