Archäologie

Hier kommt Berlins Vergangenheit ans Licht

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Markus Falkner

Foto: M. Lengemann / Martin Lengemann

Vor dem Roten Rathaus graben Archäologen Berlins Vergangenheit aus. Viele Stücke lassen die Geschichte der Stadt in neuem Licht erscheinen. Morgenpost Online ist in die Grube gestiegen.

An Urteilfreude herrscht in Berlin zumindest vor dem Roten Rathaus kein Mangel: „Das ist kein Schatz – das ist ein Müllhaufen.“ Lutz Wanderer zeigt auf ein Häufchen Scherben in der Ecke. 18. Jahrhundert, das verraten Glasmarken auf den Flaschenresten. In einer Plastiktüte im Schlamm sammeln sich Keramikstücke, Knochen, Metallteile. Wanderer klaubt auf, was sich zeigt. Behutsam schabt er mit dem Spachtel den Lehmboden frei. Der Regen hat die Arbeit eines Tages über Nacht wieder zugeschwemmt. Aus dem feuchten Boden ragen Reste von zwei Tierskeletten. Ein Hund oder eine Katze wohl. Eine Ratte ganz sicher. Womit zumindest eines bewiesen wäre: Die ehemaligen Herren Berlins hatten ein Ungezieferproblem.

Lutz Wanderer ist Grabungsarbeiter –und hier ist er tätig, weil nur zwei Schritte vor der Fassade des Amtssitzes von Klaus Wowereit ein gewaltiges Loch im Boden klafft. Bis 1865, als das heutige Gebäude fertiggestellt war, stand hier das historische Rathaus Berlins, der älteste steinerne Profanbau der Stadt. Ein gotischer Prunkbau. Das wusste, wer sich dafür interessierte. Doch nun wird es offensichtlich: Die Reste der Keller, die nun erstmals seit Jahrhunderten wieder ans Tageslicht kommen, sind Beweis genug. Gemauerte Pfeiler trugen mächtige Tonnengewölbe – Keller im Kathedralenstil.

Zwischen den alten Mauern arbeiten sich die Archäologen in die Tiefe. Das geht ganz systematisch, Schicht für Schicht. Unter dem Steinfußboden folgen Lehmschichten und Dielen. 18. Jahrhundert, 17., 16. bis hinunter ins Mittelalter. Jene Zeit also, als Berlins Geschichte begann.

Seit Oktober 2009 suchen 22 Mitarbeiter des Landesdenkmalamts nach den Zeugnissen von Ur-Berlin, zunächst auf dem Marx-Engels-Forum, jetzt direkt vor dem Roten Rathaus. Graben, Vermessen, Bergen, Dokumentieren – die Arbeit muss schnell gehen: Auf dem ersten Grabungsfeld am Forum rattern schon schwere Baumaschinen. Die Grundmauern der königlichen Oberpostdirektion, die Brunnen aus dem 13. Jahrhundert, die Feldsteinmauern unter den ehemaligen Bürgerhäusern sind schon wieder im Sand der Neuzeit verschwunden. Und auch das 3700 Quadratmeter große Grabungsfeld vor dem Rathaus wird in weniger als einem Jahr zur Großbaustelle.

Hier entsteht ein Bahnhof für die künftige U-Bahnlinie 5, die den Alexanderplatz mit dem Brandenburger Tor und weiter mit dem Hauptbahnhof verbinden wird – wenn es an die Zukunft geht, dann muss das Vergangene in Berlin eben schnell wieder weichen. Voraussichtlich im März, spätestens wohl im Sommer 2011, so die aktuellen Planungen, werden die Maschinen anrücken. Was bis dahin nicht gerettet ist, wird für immer im Berliner Untergrund verschwinden.

Zumindest das meiste. Grabungsleiter Michael Hofmann hofft, dass ein Teil der Rathauskeller am Originalort erhalten bleiben kann. Er sagt, durch Fenster könnten doch U-Bahnfahrgäste einen Blick auf die historischen Gemäuer werfen. Ein Stück Mittelalter in Berlins modernstem U-Bahnhof. Die Verhandlungen mit den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), die auch die Ausgrabung finanzieren, laufen.

Der umstrittene, 433 Millionen Euro teure U-Bahn-Bau freut die Archäologen natürlich. Endlich kommen sie an Flächen, die ihnen lange verborgen waren. Aber er setzt sie auch unter Druck: Die Keimzelle Berlins muss im Akkordtempo erforscht werden.

Aber schon das, was bislang am Marx-Engels-Forum und am Roten Rathaus zutage kam, eröffnet ungeahnte Einblicke vor allem in den Alltag der Ur-Berliner. Fast einen kompletten Straßenzug der ehemaligen Königsstraße legen die Archäologen frei. Unter den Bürgerhäusern aus der Kaiserzeit, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden, finden sie immer wieder weit ältere Keller. Wenn die Kölner Altstadt auf Fundamenten aus der Römerzeit gebaut ist, dann stand Berlins Innenstadt zumindest einmal auf Mauern aus dem Mittelalter.

Doch wie lebten die Bewohner? Was aßen sie? Welcher Arbeit gingen sie nach? Keramik, Fayencen, Glas, Werkzeuge, Knochen, Münzen geben Aufschluss. Hier stand eine Apotheke, dort eine Gerberei. Ein Stück weiter liegt schon das Pflaster des Hohen Steinwegs, der die Königsstraße einst kreuzte, frei. Bis ins 15. Jahrhundert zurück lassen sich einige der gemauerten Keller anhand der Funde datieren. Eine kleine Sensation: Bislang gingen viele Historiker davon aus, dass sich Steinbauten in Berlin – abgesehen von Rathaus, Kirchen und Palästen – erst nach dem 30-jährigen Krieg im 17. Jahrhundert durchsetzten. Schon im 15. Jahrhundert zog es wohl auch den Adel in das Viertel am Rathaus, wie entdeckte Luxusgegenstände belegen. Die Nähe zum königlichen Schloss machte die Wohngegend attraktiv, glaubt Hofmann.

Weit öfter als wertvolle Relikte des Mittelalters oder des Barock finden Hofmann, Wanderer und ihre Kollegen Kitsch und Plunder des 19. und 20. Jahrhunderts. Und auch ältere Funde halten nicht immer das, was sie versprechen. „Wenn du die erste Tonpfeife aus dem 18. Jahrhunderts findest, denkst du, das sei etwas Besonderes“, sagt Wanderer. „Nach der 20. weißt du, dass du dich geirrt hast.“ Einmalige Schätze oder wertloser Krimskrams? Achtlos beiseite geworfen liegen Dutzende Stücke letzterer Kategorie im Schlamm neben der Grube. Verschnörkelte Kerzenleuchter, eine zerbrochene Tabakdose, ein verrosteter Stahlhelm. Anderes ist noch nicht im Bewertungssystem zwischen Banalem und Bedeutendem eingeordnet. Der Torso einer Frauenskulptur – augenscheinlich aus der Kaiserzeit – steht gleich neben einem Säulenkapitell aus dem 18. Jahrhundert.

Nur ein paar Schritte weiter zeigt Grabungsleiter Hofmann einen unzweifelhaft spektakulären Fund. Einen ausgehöhlten Kalksteinblock, fast eine Tonne schwer, mit Deckel aus Steinplatten. Ihn haben sie im Rathauskeller gefunden, und für den Historiker gibt es nur eine Erklärung. „Der ist ganz sicher zur Aufbewahrung von etwas sehr Wertvollem genutzt worden“, sagt Hofmann. Wichtige Urkunden, vielleicht sogar ein Teil des Stadtschatzes könnten in der Steintruhe gelegen haben. „Ein Tresor, so schwer und fast so unzugänglich wie unsere heutigen Modelle.“ Ähnlich Aufsehenerregendes könnte auch in jenem Teil des Grabungsfeldes verborgen sein, der für Hofmann&Co. derzeit noch tabu ist.

Zwischen den freigelegten Rathauskellern und den Resten der Wohn- und Geschäftsbebauung auf der anderen Seite der Königsstraße liegt noch die Neuzeit im Weg – in Form von Leitungen für Wasser, Strom und Telefon. Erst wenn jene verlegt sind, können die Archäologen im Herbst auch dort graben, wo spätere Bebauung die älteren Schichten vermutlich nicht beschädigt hat. Abfallgruben und Brunnen hoffen sie zu finden, für die Wissenschaftler wahre Fundgruben des früheren Lebens. Brunnen mit hölzerner Verschalung bestenfalls. Archäologen lieben Holz, liefert es doch das, was Wissenschaftler am meisten schätzen: exakte Antworten. Dendrochronologen können anhand der Jahresringe eine erstaunlich präzise Datierung liefern. Wachstumsphasen bilden im Holz eine unverwechselbare Struktur – einmalig wie ein Fingerabdruck. Holzteile eines Brunnens konnten schon vor Jahren belegen, dass Berlin bereits um 1220 besiedelt war, nur etwa 50 Jahre nach der als weit älter eingeschätzten Schwesterstadt Cölln auf der anderen Spreeseite.

Dass die Siedlungsgeschichte Berlins noch weit älter ist als die Stadtgeschichte – davon ist Michael Hofmann überzeugt. Andernorts in der Stadt gab es bereits Funde aus der Slawenzeit. Hofmann glaubt auch an eine mögliche germanische Besiedlung. Erste Spuren, so hofft er, könnten sich schon im nächsten Grabungsfeld entlang der künftigen U-Bahn-Trasse finden. Im November soll es am östlichen Spreeufer losgehen, wo in sieben Jahren der Bahnhof Museumsinsel einen Eingang haben wird. Dort, in der Nähe des Flusses, könnten sich die allerersten Berliner niedergelassen haben, glaubt Hofmann.

Sollte er Recht behalten, wäre auch Grabungsarbeiter Wanderer seinem Ziel ein ganzes Stück näher. Jenem Ziel, das Hitze, Regen, tote Ratten und Tonpfeifen vergessen lässt: „Ich will wissen, wie es zu Anfang war.“