In der Berliner Charité ist ein krebskranker Junge gestorben, nachdem ihm der Arzt eine Überdosis eines Zellgifts gespritzt hat. Der Mediziner kam mit einer Ermahnung durch den Ärztlichen Direktor davon. Die Mutter will es nicht dabei belassen und klagt die Charité an.

Jeden Tag geht Silvia A. auf den städtischen Friedhof in Braunschweig zum Grab ihres geliebten Sohnes Sebastian. Sie legt Blumen nieder, stellt eine Kerze neben das Holzkreuz. Immer wieder fließen Tränen. Die alleinerziehende Mutter kann es nicht fassen, dass ihr Sohn gestorben ist, nur 15 Jahre alt.

Gegen einen Chirurgen der Universitätsklinik Charité erhebt sie nun schwere Vorwürfe. Der Arzt hatte dem krebskranken Jungen fälschlicherweise die hundertfache Dosis eines Zellgifts in den Kopf gespritzt. Der Schüler fiel wenig später ins Koma und starb vier Monate danach am 28. Februar 2009. Für den Arzt hatte der Fehler keine wesentlichen Konsequenzen. Er wurde durch den Ärztlichen Direktor ermahnt, er darf weiter operieren.

Kampf gegen den Krebs

„Eigentlich wollte Sebastian nicht nach Berlin fahren“, erinnert sich die Mutter. Doch sie überredete ihn, denn sie setzte große Hoffungen in die Spezialisten der Charité. Zu dem Zeitpunkt hatte Sebastian schon zwei Jahre gegen seine bösartige Krebserkrankung gekämpft.

Mit Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen hatte alles angefangen. In einer Braunschweiger Klinik diagnostizierten die Ärzte einen Hirntumor. Am 15. Oktober 2007 entfernten sie das Karzinom. „Seine Chancen, den Eingriff zu überleben, standen 50 zu 50“, sagt Silvia A. Sebastian kämpfte mit Chemo- und Strahlentherapie gegen die bösartige Krankheit. Es bildete sich ein zweiter Tumor, der eine Hirnblutung auslöste. „Eigentlich war der Krebs wieder zurückgedrängt“, erinnert sich die Mutter. Nach Berlin fuhr sie mit ihrem Sohn im November 2008, um noch eine Bestrahlung machen zu lassen. Diese Behandlung war fast abgeschlossen. Mutter Silvia A. war die ganze Zeit bei ihrem Sohn.

Hundertfache Dosis gespritzt

Plötzlich aber bekam er Rückenschmerzen. Bei einer Untersuchung stellten die Mediziner eine niederschmetternde Diagnose. Sebastian hatte Metastasen in der Wirbelsäule. Die Ärzte schlugen vor, im Kopf des Jungen ein Reservoir mit Zellgift anzulegen. In dieses Depot würde das Zellgift gespritzt, das von dort ins Gehirnwasser gelangt. Als der Chirurg, der das Reservoir in Sebastians Kopf eingepflanzte hatte, das Zellgift einspritzte, passierte ihm dabei ein folgenschwerer Irrtum. Er nahm nicht die schon bereit liegende Spritze, die ein Milligramm der Dosis enthielt, sondern zog eine neue Spritze mit der hundertfachen Dosis auf und injizierte sie.

Nach Angaben der Mutter merkte der Arzt den Fehler erst drei Stunden später. Sebastian wurde erneut in den OP-Saal geschoben. Der Arzt versuchte, das Zellgift auszuspülen. Noch heute hört Silvia A. die Worte des Uni-Arztes: „Es ist mir ein Fehler unterlaufen. Ich weiß nicht, welche Auswirkungen das haben wird.“ „Sebastian kam nach dieser Operation nie wieder richtig zu sich“, sagt die Mutter. Der Junge war apathisch, konnte nicht mehr stehen, hatte keine Kraft mehr. Sein Zustand verschlechterte sich dramatisch, er fiel ins Koma. Seine Mutter holte ihn zurück nach Braunschweig. Dort starb Sebastian am 28. Februar 2009, zehn Tage nach seinem 15.Geburtstag.

Anwältin fordert Schmerzensgeld

Mit Hilfe der Rechtsanwältin Michaela Bürgle will Silvia A. den Arzt zur Rechenschaft ziehen. Bürgle hofft, dass man sich außergerichtlich einigen kann. Die Charité bedauert den Fall und hat der Mutter ihr Mitgefühl ausgesprochen. „Um solche Vorkommnisse in Zukunft zu verhindern, wurde veranlasst, dass nur noch Onkologen und nicht die Chirurgen dieses Medikament verabreichen dürfen“, sagte Charité-Sprecherin Kerstin Endele.

Der Ärztliche Direktor der Charité, Professor Ulrich Frei, meint allerdings, dass es fraglich sei, ob Sebastian an der Überdosis gestorben sei oder an den Folgen seiner Erkrankung. „Das kann nur eine Obduktion klären“, so Frei. „Ich finde es schäbig, dass die Charité ihre Versäumnisse jetzt beschönigen will“, sagt die Anwältin. Seit dem Tod ihres Kindes kann Silvia A. nicht mehr in ihrer Wohnung leben. Der Schmerz ist zu groß.