Jasmin aus der neunten Klasse ist stolz, eine Schülerin an der Rütli-Hauptschule in Neukölln zu sein. „Hier ist mein Zuhause, meine Lehrer sind auch meine Freunde“, sagt die 15-Jährige. Obwohl sie am Donnerstag schon um 10 Uhr hätte nach Hause gehen können, war sie um 16 Uhr immer noch an der Schule und half, die Ausstellung anlässlich der heutigen Jubiläumsfeier aufzubauen – 100 Jahre Rütli. Die alten Fotos, die sie dabei an die Wand hängte, zeigen die Geschichte der Rütli-Schule des vergangenen Jahrhunderts.
Richtig bekannt ist die Rütli-Schule eigentlich erst seit drei Jahren. Damals, im März 2006, hatten deren Lehrer in einem verzweifelten Brief an den damaligen Bildungssenator Klaus Böger (SPD) die Auflösung der Hauptschule gefordert, weil Unterricht durch fehlende Lehrkräfte und aggressive Schüler nicht mehr möglich schien. Der Brief löste eine bundesweite Debatte über den Umgang mit Schülern an sogenannten Brennpunktschulen aus, an denen der Anteil der Migranten über 80 Prozent liegt. „Eine Situation, wie sie viele Hauptschulen in Berlin kennen“, meint der bisherige Schulleiter Aleksander Dzembritzki.
Doch der Brandbrief hat für die Schüler der Rütli-Schule viel verändert. Das Ganztagesangebot wurde ausgebaut, eine Box-AG und eine Fußball-AG wurden gegründet. Zusammen mit dem Maxim-Gorki-Theater haben die Lehrer der Rütli-Schule eine Theater-Gruppe gegründet, die heute ihre Darbietung von Shakespeares „Romeo und Julia“ aufführt. Drei Soziologiestudenten haben das Label „Rütli-Wear“ gegründet und vertreiben mit den Schülern T-Shirts und andere Klamotten mit dem Schullogo darauf.
Im Herbst 2008 ist die Hauptschule mit der angrenzenden Heinrich-Heine-Realschule und der nahe gelegenen Franz-Schubert-Grundschule zur Gemeinschaftsschule Campus Rütli zusammengewachsen – eine der ersten Gemeinschaftsschulen in ganz Berlin. „Die Gewaltvorfälle an der Schule lassen sich im letzten Schuljahr entspannt an einer Hand abzählen“, sagt Dzembritzki. Die Lehrer seien voller Motivation, würden aufdie Schüler zugehen und hätten keine Angst mehr vor ihnen. „Viele Unterrichtsstunden werden von zwei Lehrern gehalten, da passt der eine auf, wenn der andere der Klasse den Rücken zudreht.“
Dzembritzki ist zufrieden mit dem, was er in den knapp zwei Jahren als Schulleiter in die Wege leiten konnte. „Doch viele Projekte brauchen noch Zeit, es ist nicht so, als hätten wir überhaupt keine Probleme mehr.“ Der Abschied von der Rütli-Schule fällt dem scheidenden Rektor nicht leicht, den Campus Rütli wird nun die bisherige Schulleiterin der Heinrich-Heine-Realschule, Cordula Heckmann, leiten.
Im Licht der Öffentlichkeit
Schülerinnen wie Jasmin haben durch die Veränderungen in den letzten zwei Jahren gewonnen. Sie geht in die Schulverweigerer-Klasse von Lehrerin Petra Eggebrecht, unter deren kommissarischen Rektorat 2006 der Brandbrief verfasst wurde. Früher hat Jasmin oft unentschuldigt in der Schule gefehlt und lieber den Tag mit Freunden verbracht. „Aber jetzt sind die Lehrer viel netter und dann macht Schule auch Spaß“, sagt sie. In der letzten Woche haben sie und ihre Klassenkameraden recherchiert, was in ihrem Klassenzimmer nach 1945 passiert ist.
"Das war direkt nach dem Krieg, die Kinder waren sehr arm“, weiß sie, „Laptops gab es damals natürlich noch keine.“ Aber Jasmin hat in den letzten Tagen auch gelernt, dass die Rütli-Schule schon früher im Licht der Öffentlichkeit stand. In den 20er-Jahren lag die Schule mitten in einem Arbeiterviertel, die Pädagogik dort war geprägt von kommunistischen und linksintellektuellen Idealen. Während der Weimarer Republik war die Rütli-Schule als fortschrittliche Reformschule bekannt. „Der bedeutende Pädagoge Fritz Karsen hat hier gewirkt“, sagt Schulleiterin Cordula Heckmann. Er habe die Schule für alle geöffnet und mehr Schüler zum Abitur führen wollen.
Die Rütli-Schule war eine der ersten Schulen in Deutschland, an der Jungen und Mädchen nicht mehr getrennt unterrichtet wurden, Jungen Handarbeit beigebracht wurde und die Lehrer geduzt wurden. Der Schritt zur Gemeinschaftsschule macht die Rütli-Schule erneut zu einem Vorbild pädagogischen Fortschritts. Der Weg dorthin war nicht einfach. Noch 2006 hatten die Rütli-Hauptschule und die unter einem Dach gelegenen Heinrich-Heine-Realschule unterschiedliche Pausenzeiten. „Die Lehrer hatten keinen Kontakt, man grüßte sich nur“, sagt Cordula Heckmann. Gemeinsam mit dem damaligen Schulleiter Helmut Hochschild hat sie das frostige Klima auftauen können. Nach vielen Gesprächen stehen die beiden Lehrerkollegien nicht nur in Kontakt – sie gehören zusammen.