Ihre Büros weisen auf kahle Flure, die den sterilen Charme eines Krankenhauses versprühen. Im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) an der Mohrenstraße in Mitte sezieren Forscher den siechen Patienten Weltwirtschaft. Wenn sie jedoch versuchen, die Entwicklung der kommenden Monate zu skizzieren, stoßen sie an ihre Grenzen.
Die Prognostiker, die sich bislang als Vertreter der Königsdisziplin der Wirtschaftswissenschaften sahen, stehen unter dem Druck einer Realität, die ihre früheren Aussagen rasant überholt.
Am Dienstag hat DIW-Präsident Klaus Zimmermann schon mal vorsichtshalber die Notbremse gezogen: Sein Haus verzichtet darauf, eine quantitative Prognose für das nächste Jahr abzugeben, wie das üblicherweise in der für heute angesetzten Frühjahrsanalyse des DIW geschieht. "Seit der Verschärfung der Finanzkrise laufen alle Vorhersagen der tatsächlichen Entwicklung drastisch hinterher", sagte Zimmermann. Der Produktionsrückgang sei enorm unterschätzt worden. Die Konjunkturforschung verfüge nicht über Instrumente, um beginnende Abschwünge zu erkennen. "Die Makroökonomik befindet sich in einem Erklärungsnotstand", räumte Zimmermann ein. Prognosen seien "nur mit größter Vorsicht zu interpretieren".
Aus Sicht von Ökonomen wie Stefan Kooths und Florian Zinsmeister, die Prognosen für Konjunktur und Steuereinnahmen erstellen, ist das eigentlich eine unnötige Warnung. "Man macht eine Prognose nicht wie beim Lotto, um sechs Richtige zu haben", sagt Kooths, "sondern um der Politik eine Möglichkeit zu bieten, die Lage einzuschätzen." Es gehe nicht nur um eine statistische Verarbeitung von Daten, ergänzt Zinsmeister. "Es geht darum, eine plausible Geschichte zu erzählen."
Die beiden Wissenschaftler durchleben spannende Zeiten. In normalen Jahren verschwinden viele Erkenntnisse im "weißen Rauschen dessen, was statistisch zu erfassen ist", sagt Kooths. Plus 0,1 Prozentpunkte oder minus 0,2, was mache das aus? "Aber jetzt zeigen sich fundamentale Mechanismen einer Wirtschaft deutlich", sagt der 40-jährige Kooths, der seit 2006 als Projektleiter die Konjunkturbarometer des DIW verantwortet.
Aber der Eindruck, dass die Institute meist danebenliegen, ist mittlerweile auch wissenschaftlich untermauert. Gerade die frühesten Vorhersagen zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes neigten "zu großem Optimismus", haben andere DIW-Forscher ermittelt. Die ersten Prognosen für die Jahre zwischen 1996 und 2006 hätten im Durchschnitt das reale Wachstum jeweils um 0,8 Punkte zu positiv eingeschätzt. Prognosen, die mehr als zwölf Monate im Voraus erstellt wurden, hätten im Nachhinein betrachtet "nahezu keinen Informationsgehalt mehr", hieß es kürzlich in einem Wochenbericht des DIW.
Das bedeutet: Heute zu sagen, was 2010 passiert, ist annähernd unmöglich. Und dennoch werden es nicht alle Ökonomen halten wie DIW-Chef Zimmermann und die verunsicherte Öffentlichkeit in den kommenden Tagen wieder mit Zahlen füttern. Die einen werden sagen, die Krise werde 2010 überwunden. Die anderen werden mit ebenso viel Überzeugung eine lange Rezession ankündigen.
Und so sprach Zimmermann nun am Mittwoch lediglich davon, dass zum Jahreswechsel mit einem Ende der scharfen Rezession zu erwarten sei. Für Anfang 2010 hält Zimmermann eine leichte Belebung für ein realistisches Szenario. Am ehesten sei von einer "sehr schwachen und langsamen Erholung“ auszugehen. Die Zahl der Arbeitslosen könnte im Jahresverlauf um mehr als 700.000 auf 3,7 Millionen ansteigen. Eine konkrete Wachstumsrate für 2010 nannte Zimmermann jedoch nicht. Gleichzeitig sprach er sich dezidiert gegen ein Konjunkturpaket III aus - schon davon zu sprechen, verunsichere die Wirtschaft.
Und genau damit zog sich der DIW-Chef den Spott des früheren Wirtschaftsweisen und heutigen Chefökonomen des privaten Finanzdienstleisters AWD, Bert Rürup, zu. Rürup nannte es "besonders interessant, dass Klaus Zimmermann, der Präsident, glaubt, keine Prognose abgeben zu können. Aber gleichzeitig ist er dezidiert gegen ein drittes Konjunkturprogramm – wie man aber die Frage nach der Notwendigkeit eines dritten Konjunkturprogramms qualifiziert beantworten kann, ohne eine Prognose zu haben, das erschließt sich mir eigentlich nicht“.
Die beiden DIW-Prognostiker Kooths und Zinsmeister, junge Männer mit einem Abiturdurchschnitt von 1,0 und im Falle von Kooths einer Summa-cum-laude-Dissertation, reagieren schmallippig auf die Idee, im Nachhinein ihre Treffsicherheit zu überprüfen. Ein genereller Optimismusabschlag, weil man früher eben zu zuversichtlich war, erscheint den Forschern unwissenschaftlich. Als der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, im Februar die Nation mit seiner Aussage erschreckte, die deutsche Wirtschaft werde um fünf Prozent schrumpfen, "konnte das noch nicht abgesehen werden: Das war noch nicht durchgerechnet."
Prognostiker berichten, was mit höchster Wahrscheinlichkeit eintritt, wenn die Annahmen sich nicht verändern, sagt Zinsmeister. Der 33-jährige Bayer sitzt unter anderem im Arbeitskreis Steuerschätzung des Bundesfinanzministeriums, der die Folgen der Konjunkturentwicklung für die staatlichen Kassen voraussagen soll. Das stellt die Finanzminister überall vor Probleme. Denn natürlich wackeln gerade in der Krise die Rahmenbedingungen. Dollar-Kurs, Ölpreis, Konsumneigung, die Wirkung von Konjunkturprogrammen, die Entwicklung in völlig verschiedenen Regionen der Welt und unterschiedlichen Branchen - all das ist nicht leicht abzuschätzen.
Eine seriöse Prognose zeichne sich dadurch aus, dass sie eintreffe, wenn die Annahmen sich nicht veränderten, sagt Kooths. "Sonst ist das nur ein Zufallstreffer." So hatte das Institut, das im vergangenen Jahr mit der Wachstumsprognose am nächsten an der Realität lag, die Stagnation des privaten Verbrauchs in Deutschland richtig vorausgesagt. Die DIW-Prognose war von stärkerer Nachfrage durch die Privathaushalte ausgegangen und erwies sich deswegen am Ende als zu optimistisch. Das lag aber aus Sicht Kooths' am enormen Anstieg des Ölpreises. Die Verbraucher mussten ihr Geld an den Tankstellen ausgeben, anstatt es in den Geschäften ausgeben zu können. Die Ölpreisentwicklung habe aber auch die im Nachhinein in der Gesamtrechnung treffende Prognose nicht berücksichtigt, sagen sie im DIW. Die Konkurrenz sei also nur auf die richtige Wachstumsrate gekommen, weil ihre Annahmen nicht eingetreten waren.
Prognosen können auch selbst dazu beitragen, dass sie nicht eintreffen. Wenn angesichts dramatischer Absturzszenarien die Politik reagiere, wenn die Bundesregierung nun Konjunkturprogramme und Abwrackprämien auflege oder die US-Notenbank das Zinsniveau gen null bringe und Milliarden für illiquide Wertpapiere ausgebe, würde ein neuer Rahmen gelten.
Die Wissenschaftler leiden unter der Kurzatmigkeit der Prognosen, die alle paar Wochen neuen Stoff für die Wirtschaftsnachrichten liefern. "Für Medien und Politik ist irgendeine Zahl besser als keine Zahl", beschreiben die Konjunkturforscher den Druck. Früher sei man gelassener gewesen, habe gewusst, dass "Konjunktur nicht im Monatsrhythmus" stattfindet.
Zu schaffen macht den Ökonomen auch die Qualität der Daten, die sie in ihre mathematischen Modelle einspeisen können. Die Welt sei insgesamt komplizierter geworden und die verfügbaren Zahlen viel schlechter als früher. "Ein großer Teil der Arbeit besteht darin, die Plausibilität von Daten zu überprüfen", berichtet Zinsmeister aus dem Alltag. Neben vielen statistischen Brüchen in den Zeitreihen, die etwa die Europäische Union im Zuge der Bemühungen um europaweit einheitliche Zählweisen verursacht habe, schade auch der Bürokratieabbau der Datenqualität. So wissen die Forscher wenig, was in kleinen und mittleren Unternehmen passiert, seit nur noch Betriebe ab 50 Mitarbeiter in die Betrachtung aufgenommen werden.
Auch weiß niemand genau, wie viele Menschen überhaupt in Deutschland leben. Seit 20 Jahren würden Daten nur fortgeschrieben, die Dunkelziffer wachse Jahr um Jahr, klagen die Wissenschaftler. Eine neue Volkszählung sei dringend geboten. "Wenn die Bevölkerung professionell regiert werden möchte, dann sollte die Regierung nicht im Nebel stochern müssen", sagt Kooths. Zumal die Bevölkerungszahl eine "hochpolitische Zahl" sei. Denn weniger Einwohner könnten eine höhere Arbeitslosenquote bedeuten, mehr Menschen sorgen schon durch ihre bloße Existenz für mehr Wachstum.
Die DIW-Mitarbeiter bewegen sich oft über politisch vermintes Terrain. Gerade in der Finanzkrise, in der die Staaten Milliarden ausgeben und die Parteien über die Folgen streiten. Was gehört eigentlich alles zum staatlichen Sektor? Was geht in ein gesamtstaatliches Defizit ein? Das sei ein "heißes Thema", wenn Banken inzwischen zu großen Teilen dem Staat gehören, sagt Zinsmeister. Oder die Frage, welche Ausgaben in ein Konjunkturpaket eingerechnet werden, mit dessen Wirkung sich die Regierenden gerne brüsten würden. Je nachdem, wie sich die Ökonomengilde entscheidet, kann die Politik dem Wahlvolk bessere oder eben schlechtere Zahlen liefern.
Auf die brennende Frage, wie es mit der Krise weitergeht, werden die DIW-Forscher eine Antwort zumindest für 2010 verweigern. Für 2009 hatten sie sich bisher auf ein Minus von vier bis fünf Prozent festgelegt. Kooths ist einigermaßen optimistisch für die deutsche Wirtschaft. "Wir exportieren schließlich keine Duftwässerchen, sondern Investitionsgüter", lautet seine Überzeugung. Solange viele Menschen auf der Welt ihre Grundbedürfnisse noch nicht befriedigen können, werden sie weiter danach streben, ihren Lebensstandard zu steigern. Mit Investitionsgütern made in Germany.
Den Vorwurf, die Krise nicht vorhergesagt zu haben, lassen die DIW-Ökonomen nicht gelten. Seit Jahren hätten sie in ihren Gutachten auf die enormen Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft und die Risiken auf dem US-Immobilienmarkt hingewiesen, haben sie vor den möglichen Folgen der Niedrigzinspolitik gewarnt. Insofern fühlen sie sich bestätigt. Wirklich umdenken müssten jetzt jene Theoretiker, deren monetäre Vorstellungen mit der Finanzkrise "voll vor die Wand gefahren sind", sagt Kooths. Mit den Folgen schlagen sich die Prognostiker nun herum. Wenn die Vermögensblase einmal platze, seien die Folgen sehr schwer abzuschätzen.
Nur eines sei bei aller Unsicherheit gewiss: Die nächste Krise kommt bestimmt. "Denn jeder weiß, dass die jetzige Geldpolitik die Wurzel neuer Verwerfungen sind wird." Ein tröstliches Wort haben die Ökonomen aber noch für die verunsicherten Bürger. Wachstum sei nicht alles im Leben. Das Bruttoinlandsprodukt sei "nur ein ökonomisches Aktivitätsmaß und kein Wohlfühlindikator", sagen die Experten.