Am Eingang des Hauses an der Hallandstraße 3 in Pankow hängt ein Schild mit der Aufschrift "donum vitae" (geschenktes Leben). „Bitte klingeln“ steht daneben. In einem hellen, freundlichen Raum im Erdgeschoß sitzt eine junge blonde Frau. Sie hält einen kleinen Hund an der Leine, starrt auf den Boden, wirkt unruhig. „Wir haben es gleich geschafft“, sagt sie und streicht dem Hund über den Kopf. „Geschafft“ heißt in diesem Fall, dass sie einen Schein für eine Schwangerschaftskonfliktberatung erhält. Die junge Frau wurde ungewollt schwanger und wünscht einen Abbruch. „Ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen“, sagt sie leise. Und, dass sie sich nicht besonders wohl fühle.
Angst vor der wirtschaftlichen Not
Für einen Abbruch entschieden sich im vergangenen Jahr 10.117 Berlinerinnen. Im Durchschnitt werden alljährlich um die 30.000 Kinder in der Hauptstadt geboren, das heißt jede vierte Schwangerschaft wurde 2008 unterbrochen. Damit steht Berlin - wie seit Jahren - an der Spitze der Statistik. Nach Aussage des statistischen Landesamts werden nirgendwo sonst in Deutschland prozentual so viele Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Obwohl Bundesweit die Zahlen um zwei Prozent sanken, stiegen sie in Berlin sogar leicht an.
"Warum ausgerechnet in Berlin so viele Schwangerschaften unterbrochen werden, lässt sich schwer sagen“, sagt der Gynäkologe Peter Sonntag. Jede Frau, die abtreibe, habe ihre eigene Geschichte und eigene Probleme. Aber Sonntag weiß auch: Was für ihn zum Berufsalltag gehört, stellt die betroffenen Frauen meist vor ein Dilemma. Kaum einer seiner Patientinnen falle die Entscheidung leicht. So war es auch bei Sabine Schulze (Name geändert). Sie kam vor knapp fünf Jahren in die Beratungsstelle „donum vitae“. Damals war sie 26 und trotz Einnahme der Pille schwanger geworden. „Das allererste Gefühl war tiefe Freude“, sagt die attraktive Frau. Doch: Wie sollte sie ohne finanzielle Mittel Studium und Kind gleichzeitig gerecht werden?
Mit dieser Angst ist die Studentin kein Einzelfall. „Für jede zweite Beratene stellt ihre wirtschaftliche Situation ein Hindernis dar“, sagt Sabine Hermann von der Berliner Senatsgesundheitsverwaltung. Besonders bei jungen Frauen sei der Schwangerschaftskonflikt entscheidend von der Frage nach Ausbildung und Arbeitsplatz geprägt.
Für Sabine Schulze fühlte es sich an, als betrete sie mit der Schwangerschaft eine völlig neue Welt. Eine, in der sie sich ganz allein zurechtfinden musste. „Kind, du bist noch so jung! Mach zuerst die Uni zu Ende, sonst wird nichts aus dir“, sagten ihre Eltern. Schnell war klar, dass auch für den Kindsvater ein Kind nicht in Frage käme. Nach dem ersten kurzen Glücksgefühl über ihre Schwangerschaft stürzte Sabine Schulze in eine schlimme Krise. Zweifel hielten sie nachts wach. Egal, ob die Entscheidung für oder gegen das Kind ausfiel, „beides fühlte sich nicht richtig an“.
Beratung änderte die Entscheidung
Die Beraterinnen kennen den Konflikt nur zu gut. „Wir möchten die Frauen so beraten, dass sie zu einer reifen Entscheidung finden“, sagt Evamaria Rosenbauer-Bernutz, seit 2001 Beraterin bei „donum vitae“. Allein in ihre Beratungsstelle in Pankow kommen jedes Jahr 200 Schwangere. Sie spricht langsam, mit einfühlsamer Stimme. Dabei blickt sie ihrem Gegenüber aufmerksam in die Augen. Eine Schwangerschaftskonfliktberatung wie bei „donum vitae“ ist nach deutschem Recht erforderlich, damit ein Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt. „Aber auch, wenn der Abbruch legal ist, sind die Frauen meist über Wochen hin- und hergerissen“, weiß die Beraterin und bittet die junge blonde Frau samt Hund in ihr Zimmer. Rosenbauer-Bernutz lächelt ihr aufmunternd zu. „Keine Sorge, wir finden eine Lösung“, sagt sie.
Bei Sabine Schulze klappte das Beratungssystem gut. Nach Gesprächen mit Freunden war sie vorerst zu dem Entschluss gekommen, dass sie eine Abtreibung wolle. Zu sehr durchkreuzte ein Kind ihre Pläne. Gut ging es ihr damit nicht. Würde sie nach dem Eingriff noch in den Spiegel schauen können? Eine weitere schlaflose Nacht. Am Morgen beschloss Sabine Schulze, zur Beratungsstelle zu gehen. Und stellte fest, dass sie sich eigentlich auf das Kind freute. In den weiteren Beratungsstunden wurde ihr erklärt, wo und wie sie finanzielle Hilfe beantragen könne, und auch gleich dabei geholfen. „Wenn Frauen sich für ihr Kind entscheiden, sollen ihnen Möglichkeiten vermittelt werden, wie sie es schaffen können“, sagt Rosenbauer-Bernutz. Heute hat Sabine Schulze eine vierjährige Tochter. „Es war kein leichter Weg, aber ich würde ihn immer wieder gehen“, sagt sie nicht ohne Stolz.
Auch ein Abbruch ist nicht tabu
Mehrmals in der Woche nahm sie Einzelgespräche und Gruppentermine wahr. „Noch wichtiger als während der Schwangerschaft war für mich die Hilfe nach der Geburt.“ So lernte sie andere Mütter kennen und stellte fest, dass sie mit ihren Problemen nicht allein war. Freundschaften entstanden, und in der Beratungsstelle „konnte man sich so benehmen, wie man sich wirklich fühlte“. Weinen, Freude, Frust – alles ist erlaubt und sogar erwünscht. Inzwischen geht ihre Tochter in den Kindergarten und die Großeltern sind „ganz vernarrt in ihre Enkelin“. Sabine Schulze beendete ihr Studium zwar nicht, arbeitet aber in einem Bereich, der ihr „Spaß macht“. Bis heute zweifelte sie nie an ihrem Entschluss.
„Es macht mich glücklich, wenn ich sehe, dass es eine Frau geschafft hat, oder eine Familie ihre Konflikte weitgehend überwunden hat“, sagt Rosenbauer-Bernutz. Auch wenn die Frauen sich für einen Abbruch entscheiden, findet sie das „okay“. Schließlich gehe es um die beste Lösung für die jeweilige Familie. Derweil verlässt die junge Frau mit ihrem Hund nach einstündigem Gespräch die Beratungsstelle. Den Schein für die Beratung hält sie fest in ihrer rechten Hand. „Ich fühle mich noch nicht reif für ein Kind, weil ich vorher meine Ausbildung beenden will“, sagt sie. Ob sie ein Problem mit der Abtreibung habe? Ein entschuldigendes Lächeln huscht über ihr schmales Gesicht. Schon, aber es sei nun mal „nicht der richtige Zeitpunkt für ein Kind“. Das sei nach der Ausbildung sicher anders. Dann wünsche sie sich eine große Familie.