Standpunkt

Die absurden Auswüchse von Hartz IV in Berlin

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Überforderte Langzeitarbeitslose, bornierte Sachbearbeiter und ganze Familien mit Sozialhilfekarriere: Ein Berliner Sozialrechtsanwalt gewährt einen Einblick in die Hartz-IV-Industrie und ihre absurden Auswüchse - Morgenpost Online lässt den Juristen hier zu Wort kommen und dokumentiert seinen Standpunkt.

"Als ich mich Ende 2005 hier im Berliner Problembezirk Neukölln als Anwalt niederließ, habe ich mich eigentlich eher für Mietrecht interessiert. Die Vertretung von Hartz-IV-Empfängern kam zufällig dazu, als einer meiner Mandanten Ärger mit seinem Jobcenter bekam.

Heute kommt rund die Hälfte meiner Mandate aus diesem Bereich. Die Schröder-Regierung hat das Sozialgesetzbuch II relativ schnell zusammengeschustert. Das führt dazu, dass es zahlreiche ungeklärte Rechtsfragen und ständig neue Gesetzesänderungen gibt. Wir wissen zum Beispiel bis heute nicht, wie viel Miete ein Berliner Hartz-IV-Empfänger bekommen darf.

Rechtswidrige Quotenregelung

Die Anwaltskosten sind für meine Mandanten in der Regel nicht das große Problem. Sie bekommen ja die Beratungshilfe, das ist ein Kostenübernahmegutschein, den das Amtsgericht des Wohnbezirks ausstellt. Bei mir zahlen sie dann nur noch zehn Euro dazu, wie beim Arzt. Damit sind die Kosten für die Beratung und für die Vertretung gegenüber dem Jobcenter gedeckt.

Wenn unserem Widerspruch vom Jobcenter nicht stattgegeben wird, muss man vor Gericht ziehen. Das kommt gar nicht so selten vor. Ich weiß von Kollegen, Richtern und ehemaligen Jobcenter-Mitarbeitern, dass das Jobcenter Vorgaben hat, wie viele Widersprüche zurückgewiesen werden müssen, es existiert eine Quote, die jeder Mitarbeiter erfüllen muss. Das ist natürlich krass rechtswidrig und wird auch nur hinter vorgehaltener Hand zugegeben. Es ist aber definitiv so. Dadurch kommt es zu relativ vielen rechtswidrigen Bescheiden.

Auf der anderen Seite entscheidet das Jobcenter häufig gar nicht. Oder stark verspätet. Oder es entscheidet, gewährt aber zu wenig Leistung. Auf Nachfragen wird dann erst mal gar nicht geantwortet. Sie können da auch keinen erreichen. Es gibt eine sogenannte SGB-II-Service-Hotline für die Hartz-IV-Empfänger, für 14 Cent pro Minute, da landet man bei einer Art Callcenter. Das macht aber nichts weiter, als eine E-Mail an den zuständigen Sachbearbeiter zu verschicken.

Der ist zudem überlastet, und das führt dazu, dass Sie keine Entscheidung kriegen. Ich hatte mal einen besonders krassen Fall einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern: Sie ist umgezogen und bekam vom alten Jobcenter keine Leistung mehr, weil die nicht mehr zuständig waren. Für das neue Jobcenter hatte sie schon ein Antragsformular ausgefüllt. Bei ihrem Termin aber sagt der Sachbearbeiter ihr: 'Nein, Sie können den Antrag jetzt nicht abgeben. Heute sind Sie nur da, um sich anzumelden. Sie bekommen einen neuen Termin.'

Vier Wochen später ist der neue Termin, die Frau kommt wieder mit dem ausgefüllten Antrag vorbei. Doch dann wird ihr gesagt: 'Sie können den Antrag hier heute nicht abgeben, dieser Termin ist nur zur Ausgabe des Antragsformulars. Abgeben können Sie ihn in drei Wochen, da gebe ich Ihnen jetzt einen Termin.' Sie können sich vorstellen, was da los war!

In solchen Fällen können Sie oft gar nicht anders, als vor Gericht zu ziehen. Die finanziellen Hürden sind gering. Wir haben im Sozialrecht die Besonderheit, dass keine Gerichtskosten anfallen. Auch die Kosten des gegnerischen Anwalts entfallen, da die Behörde nicht anwaltlich vertreten ist.

Anwälte werden mit Hartz-IV-Klagen reich

Es bleiben also nur die Kosten des eigenen Anwalts. Wenn ich mit jemandem vor Gericht gehe, gucke ich mir die Sache vorher an und schätze ein, ob die Erfolgschancen realistisch sind. In einem solchen Fall gibt es dann das Rechtsinstitut der Prozesskostenhilfe. Das heißt: Der Staat zahlt die Anwaltskosten auch dann, wenn man den Prozess verloren hat. Hat man gewonnen, zahlt das Jobcenter die Anwaltsrechnung.

Die Vergütungen sind tendenziell eigentlich zu gering. Mit einem Verfahren verdient man zwischen 300 und 1000 Euro netto. Aber wenn Sie ein paar Verfahren im Monat haben, haben Sie schon ein paar Tausend Euro im Monat Umsatz gemacht. Wenn man seine Kosten im Griff hat, kann man davon ganz gut leben.

Es gibt allerdings auch einige wenige Anwälte, die sich mit Hartz IV dumm und dämlich verdienen. Ein Kollege am Kurfürstendamm zum Beispiel hat seine Kanzlei so aufgebaut, dass die Fälle von einem Heer von freien Mitarbeitern betreut werden. Der Kollege reitet richtig auf der Welle und hat Vereine gründen lassen, die ihm unter dem Deckmantel ehrenamtlicher Beratung die Mandanten zuschachern.

Seine Mandanten werden dann aber auch schlecht betreut. Es ist eben ein Massengeschäft. Ich hingegen bin für meine Mandanten fast rund um die Uhr erreichbar, im Notfall auch mal am Wochenende über Handy.

Klar, es ist schon ein verrücktes System: Ich vertrete Menschen gegen den Staat und bekomme selber mein Geld von diesem Staat. Es ist ein heller Wahnsinn, wie viel Geld der Staat im Bereich Hartz IV rausschmeißt. Das ist enorm! Natürlich kommen auch Leute, die versuchen, das Sozialsystem auszunutzen, und zum Beispiel fragen, wie sie darum herumkommen, sich bei einer Maßnahme zu melden oder an mehr Leistungen kommen.

Auch die immer wieder angeführte Arbeitspflicht gehört hierher: Die Arbeitspflicht gibt es, aber das Amt selbst gibt ja keine Arbeit, die man ablehnen könnte. Das Amt sagt: „Bewirb dich da“, und der Bedürftige muss das dann tun. Er kriegt nur eine Sanktion, wenn er sich nicht bewirbt. Bewirbt er sich aber widerwillig und schlampig, erhält er keine Sanktion, ist aber an der Arbeitspflicht vorbeigekommen. Wenn es in solchen Fällen Ansprüche auf Leistungen gibt, dann setze ich sie auch durch – manchmal auch für Leute, bei denen ich denke, die haben es nicht verdient.

Andererseits muss man sehen, dass die Leute auch verleitet werden, nicht zu arbeiten. Sie werden ja regelrecht darauf hindressiert, so wie das Anreizsystem ausgestaltet ist. Viele meiner Mandanten sagen auf meine Anregung, sich einen Nebenjob zu suchen: Wenn ich arbeite, wird mir ja etwas weggenommen. Das ist die Psychologie des SGB II: Ich habe Anspruch auf Hartz IV, gehe arbeiten, verdiene auch was, und jetzt wird mir 'zur Strafe' etwas weggenommen. Also gehe ich nicht arbeiten, ich bin doch nicht blöd.

Nur wenige berücksichtigen, dass der gekürzte Teil durch das Einkommen ersetzt wird und sie zusätzlich einen Bonus erhalten. Die Leute meinen auch häufig, ihnen müsste als Belohnung dafür, dass sie arbeiten gehen, das volle Gehalt zusätzlich bleiben.

Der Staat als Feind

Ich spüre bei vielen meiner Mandanten ein starkes Anspruchsdenken an den Staat. Andere betrachten den Staat als Feind, gegen den man sich wehren muss. Ob sich der eine oder andere auch Gedanken darüber macht, wer das alles bezahlt, bezweifele ich. In unserer Gesellschaft fragt man doch eher, was man kriegt, und nicht, was einem genommen wird. Dankbarkeit für eine oft ja auch jahrelange Alimentierung erlebe ich eigentlich nie. Dafür ist die Leistung zu formalisiert und mit zu viel Frust, Fehlentscheidungen und Unzulänglichkeiten verbunden.

Auch Scham spielt heute keine große Rolle mehr. Ich habe oft den Eindruck, die Leute sehen es als ihr Recht an, diese Leistungen in Anspruch zu nehmen, und tun das dann auch. Früher war es durchaus problematisch, Sozialhilfe zu beziehen. Heute ist das in bestimmten Schichten geradezu üblich geworden. Ich habe hier Mandanten, da bezieht die ganze Familie Hartz IV, quer durch alle Generationen. Das kann eigentlich nicht sein!

Wir kennen die Probleme, aber niemand traut sich, mal etwas zu machen. Stattdessen wird jetzt über mehr Geld für Bedürftige und eine Arbeitspflicht gesprochen. Da regt sich natürlich Widerstand. Andererseits können Sie mit 150 Euro mehr Leistung niemanden wirklich zufrieden machen. Damit wird nur der Schmerz ein wenig betäubt, aber die Krankheit bleibt.

Hier wird deutlich, dass wir zu einer Gesellschaft verkommen sind, die nur noch in Geld denkt. Es geht aber nicht nur um Geld! Es geht um Lebenszufriedenheit und darum, dass das Leben lebenswert sein soll. Das kriegt man mit etwas mehr Geld nicht hin, denn dazu gehört nun mal das Gefühl, zu etwas nütze zu sein und Anerkennung zu bekommen.

Zum Beispiel in einem öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis in Bereichen, die zur öffentlichen Daseinsfürsorge gehören, geringe Anforderungen an den Intellekt stellen und in denen auf absehbare Zeit mit Sicherheit keine regulären Arbeitsverhältnisse entstehen werden. Nehmen Sie die Altenpflege. Natürlich kann ein Hartz-IV-Empfänger allein keine alten Menschen pflegen. Aber man braucht keine Altenpflegerausbildung, um alte Menschen im Park spazieren zu fahren, sich mit ihnen zu unterhalten und ihnen in Ruhe genügend Nahrung und Flüssigkeit zu geben.

Es kann doch nicht sein, dass wir Millionen Menschen haben, die keiner Arbeit nachgehen, und gleichzeitig gibt es unendlich viele soziale Aufgaben, die nicht angepackt werden, weil sich niemand findet, der dafür Lohn zahlen würde!

Hartz IV würde es in meinem Modell gar nicht geben. Die Idee dahinter ist: In einem gesunden Staat sind immer genügend Arbeitsmöglichkeiten vorhanden, und niemand braucht soziale Unterstützung. Lieber soll der Staat das, was er jetzt als Hilfe gibt, als Gehalt bezahlen. Arbeiten ist ein Menschenrecht! Wer dann allerdings freiwillig keiner Arbeit nachgeht, der würde bei mir auch nichts kriegen. Glauben Sie mir: Es würde damit allen Menschen besser gehen.

Insofern finde ich es richtig, dass wir jetzt diese Sozialstaatsdebatte führen. Die Art und Weise, wie sie geführt wird, nämlich ohne Argumente und ohne ernst gemeinte Lösungsansätze, finde ich allerdings sehr traurig. Ich denke, dass wir da eine Chance verpassen, etwas zu verbessern. Vielleicht sollten wir in der Politik einfach mal ein bisschen experimentieren und mutiger sein. Man darf beim Experimentieren auch Fehler machen. Das wäre allemal besser als der ewige Stillstand, unter dem dieses Land leidet – nicht nur im Bereich Hartz IV."

( Aufgezeichnet von Sabine Höher )