Wie der Streit mit "Ratten-Jenny" begann, ist heute nicht mehr so wichtig. Sicher ist nur, dass irgendwann der damalige Clubchef vom SO36 die bekannte Punkerin mit der weißen Ratte auf der Schulter rauswarf. Aus dem Club war laute Gitarrenmusik zu hören, ein paar Leute standen am Eingang. Die Tochter des Kriminalkommissars, die alle immer nur Ratten-Jenny nannten, lag vor dem SO36 auf der Oranienstraße mit einem zerbrochenen Bierglas in der Hand. Ihre Handfläche blutete - aber sie war noch nicht fertig mit dem Clubchef, der in der Punkszene ohnehin unbeliebt war. Plötzlich stand Ratten-Jenny mit dem zerbrochenen Glas auf und "revanchierte" sich bei ihm.
Dieser Clubchef war der bekannte, inzwischen gestorbene Künstler Martin Kippenberger. Und die Bierglas-Kampfszene erzählt Wolfgang Müller, Gründer der legendären Berliner 80er-Jahre-Punkband Die Tödliche Doris. Der heute 51 Jahre alte Musiker und Autor erinnert sich noch an 1978, als Kippenberger aus dem SO36 einen Luxus-Kunst-Club machen wollte und damit die Punks gegen sich aufbrachte. "Kurz nach diesem Zwischenfall verließ er das SO36", sagt Müller weiter "und dann auch die Stadt." Er verarbeitete das Ereignis in einem seiner Bilder, das ihn mit bandagiertem Gesicht zeigt. Punks hätten ihn wegen zu hoher Bierpreise verprügelt - so die offizielle Version. Kippenberger hat das Bild ironisch "Dialog mit der Jugend" genannt. "Dabei war die Ratten-Jenny nur drei Jahre jünger", sagt Wolfgang Müller. Und ob sie überhaupt unter den Schlägern war, weiß heute keiner mehr so genau. Das alles ist immerhin 30 Jahre her. Und jetzt wird erst einmal gefeiert: das SO36 als das, was es ist - eine Kreuzberger Institution.
Rosa Plüschstuhl als Wanddekoration
Denn das Image der "Wilden Achtziger" hängt dem Club noch heute an. Und wie damals gibt es Diskussionen um Kommerz und Ausverkauf von Idealen. "Klar finden auch heute noch einige Punks die Preise für unser Bier zu hoch", sagt Lilo Unger, die von allen nur Lilo genannt wird und eine der jetzigen Vorstandsvorsitzenden des SO36 ist. Klar sei auch, dass der Club inzwischen etwas professioneller organisiert sei. "Aber wir sind eben ein unabhängiger Club und müssen auch sehen, dass die Rechnungen bezahlt werden." Dass trotzdem der Profit hier nicht an der obersten Stelle steht, das wird jedem klar, der sich nur ein paar Minuten in den Büroräumen der Betreiber des SO36 aufhält.
Vielmehr strahlen diese eine Lebenseinstellung aus. Ein rosa Plüschstuhl hängt an der Wand, eine halbleere Sektflasche steht auf dem Tisch und überall liegen Flyer von kommenden Partys herum. Kollegen kommen und gehen, ihre Haare sind blau und grün, alle duzen sich und die Hierarchien sind merklich flach. Oder existieren einfach gar nicht. Rund 50 Mitarbeiter hat das SO36 heute, sieben Azubis sind darunter. Die Bürozeiten sind flexibel, für nerviges Telefonklingeln gibt es freundliche Anrufbeantworter - und nur ein Termin ist seit Jahrzehnten für alle Pflicht, die etwas mit der Organisation zu tun haben: der sogenannte Deli. Dieser "Delegiertenrat" tritt jeden Mittwoch um 18 Uhr zusammen. "Jeder, der eine Idee für eine gute Party hat", sagt Lilo, "ist willkommen."
Immer sonntags gibt's Tanztee
So sind viele der inzwischen schon traditionellen Feste entstanden. Der "Electric Ballroom", wie die Techno-Party am Montag heißt, wurde so in den Neunzigern ins Leben gerufen. Heute heißt die Veranstaltung "montech" und einzelne DJs dieser Reihe werden nach Toronto und Tokio eingeladen. Eine ganz andere Szene trifft sich jeden Sonntag im "Café Fatal". Seit fast zwölf Jahren beginnt der Sonntag im SO36 mit einem "Tanztee" für schwullesbische Paare. Männer tanzen Walzer, Rumba und Foxtrott mit Männern und Frauen mit Frauen. Wer da führt, ist Verhandlungssache, wie sowieso alles im SO36. "Nur eine Sache muss vorher für alle klar sein", sagt Lilo und wird für einen Augenblick ernst: "Wir machen nichts für Nazis, Sexisten und Rassisten." Alle anderen seien willkommen, hier zu feiern.
Eine, die in den ersten Jahren dieser offenen Einladung sehr oft gefolgt ist, ist Gudrun Gut, wie Wolfgang Müller ein Urgestein der Berliner Punkszene und Mitgründerin der Einstürzenden Neubauten. "Wir haben den Club früher selbst oft gemietet", sagt sie. Sie erinnert sich noch genau an die Nächte, die damit endeten, "dass man irgendwann morgens durch Zigarettenqualm und Neonlicht über Bierdosen hindurch ins Freie stolperte." Auch sie kennt die Ratten-Jenny und ihre großen Auftritte im SO36. "Aber ist die Jenny nicht nur deswegen bekannt geworden, weil sie einmal auf der Bühne in den Fußboden eingebrochen ist?"
Das ganz große Chaos als beinah schon eingeplantes Happening. Dieser Ruf zog viele Künstler an, die dann später bekannt wurden. Die Toten Hosen seien hier als die Vorband der Ärzte aufgetreten - oder war es umgekehrt? Aber auch die Punkbands Slime und Throbbing Gristle traten hier auf. Kreuzberger erzählen noch heute von der komplett gesperrten Oranienstraße, als die Dead Kennedys im "Esso" gastierten. Wolfgang Müller erinnert sich an einen Auftritt der "Tödlichen Doris", bei dem Udo Lindenberg plötzlich vor ihm stand. Der Hamburger war eben auch regelmäßiger Gast in der West-Berliner Punkszene, genau wie Dr. Motte, der Erfinder des Technofestivals Love Parade, und Westbam, heute einer der bekanntesten Techno-DJs der Welt.
Während sich damals der Club aber eher ausschließlich an diese Szene richtete, zeichnet er sich heute durch eine größtmögliche Offenheit aus. "Erst letzte Woche haben hier wieder die Stadtteilmütter aus Neukölln gefeiert", erinnert sich Veranstalterin Lilo. "Ich hab mich gewundert, dass die von mittags 11 Uhr an vier Stunden lang ein ganz schön lautes Fest feiern konnten." Dass in dem gleichen Saal an manchen Nächten die Veranstaltung "Gayhane" stattfindet, eine schwullesbische Party mit orientalischer und arabischer Ethno-House-Musik, gehört zum Konzept.
SO36 bald ohne SO36?
Für Wolfgang Müller ist es diese Mischung, die das SO36 noch heute zur Avantgarde in Berlin zählen lässt - auch wenn inzwischen das Rauchen verboten ist und Bierdosen nicht mehr verkauft werden. "An einem Tag türkische Kulturgruppen, an einem anderen ein Nachtflohmarkt und dann wieder Kiezbingo mit Transen als Showmaster - so etwas gibt es so nur in Berlin", sagt er. Ihn wundere nur, dass es kein Buch zu dieser Einrichtung gebe. Wenn es derzeit jemand schreiben würde, wäre es vielleicht gleichzeitig ein Abgesang. Denn derzeit ist der Club wieder einmal in seiner Existenz bedroht.
"SO36 bald ohne das SO36?" steht schon auf der Internetseite. Ein Nachbar des Clubs hat sich wegen Ruhestörung beschwert, eine gütliche Einigung scheint unmöglich. "Wir haben Verschiedenes versucht", sagt Lilo, "aber inzwischen läuft es darauf hinaus, dass wir in den kommenden Wochen versuchen müssen, eine Schallschutzmauer zu bauen." Andernfalls müsse das SO36 Konzerte in Zimmerlautstärke spielen - "und dann könnten wir auch wirklich zumachen". Bleibt nur die Frage, wo die Clubmacher die nötigen 80 000 Euro so schnell hernehmen sollen.
Dass eine gute Nachbarschaft mit dem Club möglich ist, zeigen die Besucher, die direkt eine Etage unter dem Büroräumen des Clubs ein und aus gehen. Denn dort im Hinterhof steht eine Moschee. Wer also den Fahrstuhl vom vierten Stock aus benutzt, dem kann es passieren, dass plötzlich mehrere freundlich grüßende Herren mit Schnurrbart einsteigen und sich über die Politik des türkischen Premiers Erdogan unterhalten. Auf das SO36 angesprochen, zeigen sie nach oben und rufen: "Alles Gute zum Geburtstag!"
Der Geburtstag hat sich also herumgesprochen - und das nicht nur im ehemaligen Postzustellbezirk "Südost 36", nach dem der Club benannt ist. Sogar aus den USA kamen Glückwünsche und Durchhalteparolen: Lydia Lunch, die später mit den Einstürzenden Neubauten und bei Sonic Youth sang, gab eines ihrer ersten Konzerte im SO36. "Damals war ich 18 Jahre alt", sagt sie in einer Youtube-Video-Botschaft. "Und heute bin ich immer noch dabei, also verdammt noch mal solltet ihr das auch bleiben."
Und die Ratten-Jenny? "Niemand weiß, ob sie zum Fest am 4. April auftaucht", sagt Lilo. "Wir haben einmal eine Party 'Was macht eigentlich Ratten-Jenny' genannt." Damals sei sie aus London gekommen und jetzt ist sie wieder eingeladen. Der Parkettboden ist inzwischen einbruchsicher renoviert und ein Glas "Berliner" kostet 2,80 Euro. Mit Pfand drei Euro.