Das Schulgebäude an der Graefestraße 85 in Kreuzberg steht noch leer und wartet auf seine Schüler. Lediglich die künftige Schulleiterin Dagmar Jenssen richtet bereits ihr Büro ein, um vor Ort zu sein, wenn der Anmeldezeitraum Anfang März beginnt. Mit jedem einzelnen Schüler will sie dann gemeinsam mit den Eltern Aufnahmegespräche führen. Schließlich handelt es sich hier um die Neugründung einer Sekundarschule mit einem einzigartigen Konzept.
Während sich im Normalfall bestehende Haupt- und Realschulen zu Sekundarschulen weiterentwickeln, soll Kreuzberg eine zusätzliche Schule erhalten. Die Besonderheit: Die Schüler lernen die Theorie über die Praxis, für jeden einzelnen gibt es individuelle Lernvereinbarungen und die haben weniger mit der Förderprognose der Grundschule zu tun, sondern vielmehr mit den Interessen, mit den besonderen Begabungen, mit der aktuellen Lebenssituation oder dem Berufswunsch des Schülers. Steht beispielsweise ein Umzug ins Ausland bevor, kann verstärkt eine Fremdsprache erlernt werden. Ist der Schüler ein Schauspieltalent, kann er Lernzeit im Theater oder beim Film absolvieren. Auch deshalb sind die persönlichen Aufnahmegespräche Bedingung.
Wie das Lernen über die Praxis genau funktioniert, können sich interessierte Eltern und Schüler in der Einrichtung „Stadt-als-Schule“ am Fraenkelufer 18 ansehen. Die Schüler der neunten und zehnten Klassen werden mit in die neue Schule ziehen. Das Konzept, das ursprünglich in New York als „City as School“ entwickelt wurde, soll künftig in etwas abgewandelter Form für alle Sekundarschüler an der Graefestraße möglich werden.
Auch Tara wird mit umziehen. Im Moment arbeitet die 18-jährige Tara in der Schul-Cafeteria am Fraenkelufer. Auf dem Speiseplan steht an diesem Tag Karottensuppe, doch die schmeckt anders als ein typischer Kantineneintopf, schließlich würzen hier die Schüler selbst, mit scharfem Ingwer und fruchtigem Orangensaft. Demnächst wird Tara in eine Arztpraxis wechseln als Sprechstundenhilfe. Unterricht an der Schule hat sie nur an zwei Tagen in der Woche.
„Wir müssen viele Extraaufgaben zu Hause machen“, sagt sie. Doch das mache ihr nichts aus, schließlich habe sie sich selbst das Ziel gesetzt, einen guten Mittleren Schulabschluss zu schaffen, um dann noch ein Fachabitur dranzuhängen. So viel Arbeitseifer wäre bei Tara früher nicht denkbar gewesen. Als sie noch an einer Gesamtschule mit 1300 Schülern lernte, nahm sie nur sporadisch am Unterricht teil, und irgendwann hatte sie gar keine Lust mehr auf Schule.
Zukunft statt Zensuren
Dem 17-jährigen Juro ging es ähnlich. Er war vorher an einem Gymnasium, doch die Schule fand er „sterbenslangweilig“. Nach einem Praktikum in einer Tischlerei in der neunten Klasse, konnte er sich gar nicht mehr vorstellen, weiter die Schulbank zu drücken. „Ich hatte endlich etwas gefunden, was mir richtig Spaß machte und wollte mich nicht weiter im Unterricht langweilen“, sagt Juro. Auch er ging immer seltener zur Schule, bis er schließlich im Internet auf die Einrichtung am Fraenkelufer stieß.
„In meinem Vorstellungsgespräch fragte niemand nach meinen Zensuren oder warum ich so viele Fehlzeiten habe. Es ging nur darum, welche Vorstellungen ich für meine Zukunft habe“, erzählt Juro. Jetzt kann er beides machen: in der Tischlerei lernen und weiter an seinem Schulabschluss arbeiten. Das Abitur will er auf jeden Fall trotzdem ablegen, auch wenn er es für seine Ausbildung nicht braucht. Der Tischlerberuf sei schließlich körperlich sehr anstrengend, da wisse man nie wie lange man das im Alter durchhalte.
„Wir teilen die Schüler nicht ein in den so genannten praktisch Begabten und den Intelligenten“, sagt der stellvertretende Schulleiter der Stadt-als-Schule, Reinhard Gocht. Das produktive Lernen könne für jeden Schüler gewinnbringend sein, auch für den Gymnasiasten. Die Lehrer begleiten die Schüler an ihre Praxisorte und entwickeln entsprechend des Leistungsvermögens Aufgaben. Die Schüler müssen Präsentationen erarbeiten, Berechnungen anstellen, chemische Prozesse erklären.
Praxisplätze gibt es nicht nur im handwerklichen Bereich, sondern beispielsweise auch im Ministerium für Entwicklungshilfe, in der IT-Abteilung der Charité oder an der Deutschen Oper. Wo die Schüler hingehen, richtet sich nach ihren Vorstellungen. Etwa die Hälfte der Praxisplätze hält die Schule durch langjährige Kontakte vor, die anderen Plätze suchen sich die Schüler selbst.
An der neuen Schule sollen die Siebtklässler zunächst in schuleigenen Werkstätten lernen, bevor sie dann ab der neunten Klasse in die Betriebe gehen. Eine Holz- und Metallwerkstatt soll es geben, eine professionelle Küche, eine Medienwerkstatt, soziale Dienstleistungen, eine Büro- und Verwaltungseinheit sowie eine Textil- und Design-Werkstatt. Die Schüler in den Werkstätten sollen dann an realen Aufträgen arbeiten, die aus Betrieben oder sozialen Einrichtungen aus dem Bezirk kommen – das kann ein Podest für eine Kita sein oder auch ein schmiedeeisernes Tor für ein Firmengelände.
Und es werden neben Lehrern auch Fachleute aus der Praxis in der Schule eingesetzt. „Oft können diese Fachleute den Stoff viel authentischer vermitteln als die Pädagogen“, sagt Dagmar Jenssen aus eigener Erfahrung. Bisher arbeitet sie an der Amelia-Earhart-Schule in Köpenick, die bereits ein ähnliches Werkstatt-Konzept verfolgt. Auch wenn die Sekundarschule an der Graefestraße eine Neugründung ist, muss sie nicht bei Null anfangen. Aufgenommen werden zum August Schüler der siebenten, neunten und zehnten Klassen.