Wo soll das Kind nach der Grundschule weiterlernen? Morgenpost Online stellt in einer Serie beispielhafte Bildungseinrichtungen vor. Zum Schuljahr 2010/11 gehen viele Haupt- und Realschulen durch Fusion in der neuen Sekundarschule auf. So wie die Röntgen-Realschule und die Kurt-Löwenstein-Hauptschule in Neukölln – zwei Partner auf Augenhöhe.

Die Skepsis ist groß, sehr sogar. Im Halbkreis stehen die Sechstklässler um Schulleiterin Marlis Meinicke-Dietrich. „Dürfen wir im Unterricht Kaugummi kauen?“, fragt Emil. Die dunkelhaarige Riem interessiert, ob Mädchen und Jungen getrennt Sport haben. Und Angelique will ihr Handy in die Schule mitbringen. Geduldig erklärt die Rektorin der Röntgen-Schule in Neukölln die Vorzüge der neuen Sekundarschule. Sie erzählt von den Regeln der Schule (keine Kaugummis im Unterricht!), den zwei Turnhallen, Förderkursen. Sie fragt nach Notendurchschnitten und hört Antworten wie 3,9 und 2,1, aber auch 4,0. „Ihr könnt es alle schaffen“, ermuntert sie die Schüler, die sich ein Bild von der Sekundarschule machen wollen. „Ja“, sagt ein Junge, „sitzen bleiben ist ja abgeschafft.“

Das stimmt, und gerade das wird eine Herausforderung. Die „Neue Röntgen-Schule“, wie sie Neuköllns Schulstadtrat Wolfgang Schimmang (SPD) nennt – ist ein Zusammenschluss der Röntgen-Realschule und der Kurt Löwenstein-Hauptschule. 400 Schüler werden in dem gemeinsamen Schulgebäude an der Wildenbruchstraße, direkt neben dem Zirkus Cabuwazi, lernen.

Der imposante Bau wird gerade umgebaut und erhält eine Aula, Mensa und Cafeteria. Die Kabel in dem neuen Computerraum hängen bereits aus den Wänden, die noch gestrichen werden müssen. Lehrküche, die Werkstätten für die Arbeitslehre und Klassenzimmer nehmen Gestalt an. Im August wird die Röntgen-Schule komplett vom Richardplatz in das Schulhaus auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Treptow und Neukölln ziehen. Dort wird auch der erste siebte Jahrgang der Sekundarschule starten. Die Kurt-Löwenstein-Schule läuft an der Karlsgartenstraße aus.

Während an der Röntgen-Schule bislang etwa 30 Prozent der Realschüler eine Gymnasialempfehlung bekamen, schaffte nur ein Fünftel der Hauptschüler überhaupt den Mittleren Schulabschluss. Diese Kluft gilt es an der Sekundarschule zu überwinden. „Gerade in der siebten und achten Klasse wird der Spagat am größten sein“, sagt Detlef Pawollek, Schulleiter der Kurt-Löwenstein-Schule und künftiger Rektor der neuen Sekundarschule. Teilungsunterricht, zwei Lehrer in der Klasse, leistungsdifferenzierte Gruppen – so will er die Kluft überwinden. Pawollek findet die Idee einer besseren Durchmischung der Klassen gut. Nur hat er auch die gestiegenen Anforderungen an die Lehrer im Blick. Die müssen sich künftig auf eine heterogene Schülergruppe einstellen, die einen fördern, die anderen fordern. Der Schulleiter will eines verhindern: „Die Reform darf nicht auf dem Rücken der Realschüler ausgetragen werden.“ Ähnliche Befürchtungen äußert auch Marlis Meinicke-Dietrich. Sie ist trotzdem optimistisch und bringt die Reform mit einer ansteckenden Begeisterung auf den Weg, obwohl sie zum Schuljahresende in Pension geht.

Das Interesse an der fusionierten Schule ist groß: Sükran Gündüz war vor zwanzig Jahren an der Röntgen-Schule. Die junge Frau türkischer Herkunft hat ihren Mittleren Schulabschluss gemacht und Zahnarzthelferin gelernt. Jetzt steht sie mit Sohn Artun auf dem Flur, um ihm die Schule zu zeigen. „Die Lehrer der Schule sind sehr engagiert und setzen alles dran, dass aus den Kindern was wird“, sagt Sükran Gündüz. Sohn Artun will etwas werden, am liebsten Rechtsanwalt. 2,6 ist sein Durchschnitt. Er weiß, dass es ein schweres Studium wird.

Passgenaue Fusionspartner

Schulstadtrat Wolfgang Schimmang spricht gern von einer Liebesheirat beider Schulen. „Passgenaue Fusionspartner“ nennt es Marlis Meinicke-Dietrich. Zwei wichtige Hauptpfeiler sind die Schulsozialarbeit und die Berufsorientierung. Beide Schwerpunkte werden an der „Neuen Röntgen-Schule“ vertieft. Neu ist der gebundene Ganztagsbetrieb für die 7. und 8. Klassen an vier Tagen in der Woche, freitags ist um 14 Uhr Schluss. Die 9. und 10. Klassen können am Nachmittag in der Schule bleiben, sie sind aber nicht dazu verpflichtet. Zahlreiche Arbeitsgemeinschaften werden den Ganztagsbetrieb auflockern. So gibt es mit der alten Schmiede am Richardplatz eine Kooperation. Im Moment entsteht dort ein geschmiedetes Kunstprojekt für die neue Schule. „Ketten sprengen, Tore öffnen“ – dieses Motto soll die Wand der Sekundarschule zieren. Auch mit dem Zirkus Cabuwazi ist eine Zusammenarbeit geplant.

Ab der 7. Klasse nehmen alle Schüler an einem sozialen Training teil. Eine Praxisklasse geht im neunten Schuljahr an den Start. Etwa 16 Schüler werden in dieser Klasse zwei Tage pro Woche Unterricht haben und drei Tage unterschiedliche Gewerke in den Werkstätten des Christlichen Jugenddorfwerks (CJD) kennenlernen. Maler, Schlosser, Friseur, Kosmetikerin sowie Berufe aus dem kaufmännischen Bereich und der Gastronomie stehen zur Auswahl.

Ausgebaut soll auch die Zusammenarbeit mit dem „Lokalen beruflichen Orientierungszentrum“ (LBO) werden. Die Mitarbeiter kümmern sich um Praxistage, bieten die Chance, erste Erfahrungen in Holzwerkstätten oder mit einem Installateur zu sammeln.

Im Moment sind beide Schulen dabei zu analysieren, was gut läuft und welche Module fortgesetzt werden. Mit Sicherheit ist das Polizeiprojekt dabei, das Sozialpädagoge Paul Kleinert schon an der Kurt-Löwenstein-Schule anbietet. Mehr als die Hälfte der notorischen Schulschwänzer, so erzählt Kleinert, wollten später zur Polizei. „Das ist der Ruf nach Regeln“, sagt Paul Kleinert. Daher hat er die Polizeitage ins Leben gerufen, an denen Polizisten vom Abschnitt 55 in die Schule kommen. Manchmal simulieren sie mit den Schülern eine theoretische Eignungsprüfung – die meisten fallen durch.

Detlef Pawollek ist Realist. Er weiß, dass das Projekt Sekundarschule Zeit braucht. Aber er hat es schon einmal geschafft. Als vor Jahren die benachbarte Rütli-Schule um Hilfe rief, hatte er seine Hauptschüler schon im Griff. Ohne Hilfe, aber mit einem klaren Konzept: Respekt, Zuwendung und Regeln.