Der Missbrauchsskandal an Jesuiten-Schulen - darunter auch das Canisius-Kolleg - nimmt neue Dimensionen an: Nach Angaben der vom Orden beauftragten Anwältin Ursula Raue haben sich bundesweit bislang 120 Betroffene gemeldet. Darunter sind auch 50 ehemalige Schüler der Berliner Eliteschule.
Die Zahl der Jesuitenpatres, denen sexueller Missbrauch von Schülern vorgeworfen wird, ist offenbar weit höher als gedacht. Bei der Vorstellung ihres Zwischenberichtes im Theater am Kurfürstendamm sagte die vom Orden als Vermittlerin engagierte Rechtsanwältin Ursula Raue am Donnerstag, sie gehe von bundesweit mindestens zwölf Tätern aus. Auch zwei Erzieherinnen und Lehrer an anderen katholischen Schulen sollen sich an Minderjährigen vergangen haben.
Rund 120 Opfer hätten sich gemeldet, bis zu 50 davon waren in den 70er- und 80er-Jahren Schüler am Canisius-Kolleg in Berlin. Die Staatsanwaltschaften in Berlin, Bonn, Frankfurt, Hannover und St. Blasien seien weiter eingeschaltet.
Raue hatte im Provinzialat der deutschen Jesuiten in München die Personalakten der beiden zunächst beschuldigten Patres gesichtet. Dabei stellte sich heraus, dass der Orden offenbar seit Jahrzehnten von dem Missbrauch wusste. So hatten im Mai 1981 elf Schülerinnen und Schüler einen Brief an die Diözeseleitung, die Schulleitung, das Provinzialat und andere geschrieben, in dem es um sexualpädagogische Fragen des Paters Peter R. ging. „Es sieht danach aus, dass das Lehrerkollegium schon vor 1981 davon wusste“, so Raue.
Der zweite Hauptbeschuldigte, Pater Wolfgang St., habe mehrfach das Gespräch mit Kollegen und Vorgesetzten gesucht und über „seine Obsession“ gesprochen.
Nach Raues Worten hätten in den meisten Fällen Geistliche Jungen und Mädchen angefasst, sich vor ihnen selbst befriedigt oder sie in sadistischer Weise geschlagen. „Das Ausmaß der seelischen Verletzung durch die scheinbar geringfügigen Taten ist enorm groß“, betonte Raue.
Die Folgen des Missbrauchs hätten bis hin zu Selbstmord gereicht. Manche der Opfer hätten ihre schweren psychischen Leiden nicht mehr in den Griff bekommen, einige hätten sich sogar das Leben genommen. „Das hat Dimensionen angenommen, mit denen bisher nicht zu rechnen war“, sagte Raue.
Viele Betroffene hätten ihr berichtet, noch heute zu leiden. „Es gibt Wunden, die heilen offenbar nicht, diese gehören dazu.“ Diese Erinnerungen würden immer wieder hochkommen, teils etwa durch Gerüche geweckt. Einige, sagte Raue, seien nur zitternd in der Lage gewesen, sie anzurufen. Manche Männer offenbarten sich zum ersten Mal und hätten selbst mit ihren Ehefrauen zuvor nicht über ihr Leid gesprochen, sagte die Anwältin. Erstaunlich sei, dass es in den Personalakten des Jesuitenordens, die sie ausgewertet hätte, an keiner Stelle um das Seelenleben der Kinder ging.
Achtzig Prozent der Opfer geht es Anwältin Raue zufolge nicht um eine Entschädigung. „Sie wollen ihre Geschichte loswerden und hoffen auf eine ernst gemeinte Entschuldigung.“ Durch den Jesuiten-Orden, der sie mit der Aufklärung der Fälle beauftragt hat, fühle sie sich unterstützt. Der Orden sei bereit, sich der Vergangenheit zu stellen. Der Papst schweigt bislang zu dem Skandal.
Provinzial Stefan Dartmann schrieb in einer Reaktion: „Das Ausmaß dieser Übergriffe, in denen sich sexuelle und sadistische Motive mischen, ist für den Orden erschreckend und beschämend.“ Die damalige Untätigkeit sei eine „Schande“ für den Orden. „Mit Scham erfüllt mich auch die im Bericht klar benannte, wenn auch noch ungenügend aufgeklärte Tatsache, dass Täter von einer Station der Jugendarbeit in die andere geschickt wurden.“
dpa/Reuters/AFP/sei/mim/kle