CanisiusKolleg

Missbrauch - "Es gab schon sehr früh Hinweise"

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Anne Klesse

Foto: epd

Die Beauftragte des Jesuitenordens, die Rechtsanwältin Ursula Raue, ist von den Dimensionen des Missbrauchs überrascht. Die Akte des einen Beschuldigten, Pater Peter R., lässt den Schluss zu, dass der Orden spätestens seit 1981 wusste, was am Canisius-Kolleg vor sich ging.

Ein paar Minuten hatte sie ganz allein an einen Tisch im Hintergrund gesessen und noch einmal durchgeatmet. Vor sich ihre Unterlagen, war sie noch einmal ihren Text durchgegangen, um punkt zwölf Uhr dann trat sie vor die Kameras.

Das Theater am Kurfürstendamm am Donnerstagmittag. Die wenigen Stühle im Foyer sind schnell besetzt, zig Journalisten sitzen dicht an dicht auf dem roten Blumenmusterteppich. Das grelle Scheinwerferlicht der Fernsehkameras fällt auf Ursula Raue und den Tisch vor ihr, auf den viele verschieden farbige Mikrofone wie ein Blumenstrauß stehen. Zu der Pressekonferenz geladen hatte Ursula Raue. Die Berliner Rechtsanwältin ist seit Anfang 2007 Beauftragte des Jesuitenordens für das Thema Missbrauch und war vor zwei Wochen nach München gereist, um die Personalakten von zwei des sexuellen Missbrauchs an Schülern beschuldigten ehemaligen Patres zu studieren.

Sie wirkt angespannt, streicht nervös ihre Unterlagen glatt. Ob man denn jetzt anfangen wolle, fragt sie etwas hilflos in die Runde. Man will. Das ganze Theater begann am 28. Januar, als die Berliner Morgenpost als erste Zeitung über einen Brief berichtete, den der aktuelle Rektor des Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, an ehemalige Schüler verschickt hatte und darin von Missbrauch in den 70er- und 80er- Jahren schrieb. In den vergangenen drei Jahren habe sie „immer wieder mit Fällen zu tun gehabt“, sagt Ursula Raue. Aber „was jetzt über uns hereingebrochen ist, hat eine Dimension angenommen, die bisher nicht zu erahnen war.“ Sie atmet tief durch. Dann beginnt sie, das Fazit ihrer Arbeit vorzutragen.

Missbrauch seit 1981 bekannt

Die Akte des einen Beschuldigten, Pater Peter R., lässt den Schluss zu, dass der Orden spätestens seit 1981 wusste, was in der Betreuungseinrichtung am Canisius-Kolleg, die von den Kindern damals nur „die Burg“ genannt wurde, vor sich ging. Elf Schülerinnen und Schüler hatten einen Brief an die Diözeseleitung, Schulleitung, Eltern, Provinzialat und andere geschrieben, in dem es, liest Raue vor, „unter anderem um sexualpädagogische Fragen“ ging. Die Schulleitung habe daraufhin „intensiv daran gearbeitet, Peter R. aus dem Canisius-Kolleg zu entlassen“. Im Herbst 1981 war es soweit.

Arbeitslos war Peter R. deshalb trotzdem nicht. Im April 1982 begann er in der Jugendarbeit und als Religionslehrer in Göttingen. Dass er in Berlin seine Schüler belästigt hatte, darüber wurde in den Akten nichts vermerkt. „In Göttingen, das wissen wir inzwischen, gab es dann auch Übergriffe auf Mädchen“, sagt Ursula Raue. Später, das war 1988, arbeitete der Jesuit in Mexiko. Sein Vertreter meldete, so steht es in der Akte, dass Peter R. dort junge Frauen missbrauchte. Im April 1995 trat Peter R. schließlich aus dem Orden aus. Arbeitslos wurde er wieder nicht – im Bistum Hildesheim beschäftigte man ihn weiter und damit endet die Akte. Dass es in den Unterlagen kein einziges Mal um die Opfer gegangen sei, findet Raue „erstaunlich“.

Mehrfach Obsession angesprochen

In der Akte des zweiten Beschuldigten, Wolfgang St., fand sich ein Schreiben aus dem Jahr 1967. Der Pater selbst berichtete seinen Vorgesetzten darin, dass ihm „mehrfach die Hand ausgerutscht“ sei, „auch dort, wo es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre“. Das Verhalten habe eine sadistisch-sexuelle Komponente, schreibt Raue in ihrem Bericht. „Es gab schon sehr früh und immer wieder Hinweise“, sagt sie. Wolfgang St. habe sich mehrmals anderen Patres offenbart und “seine Nöte“ geschildert. So erzählte er es ihr zumindest. Es passierte nichts. Bis 1979, da fand der Orden einen Therapieplatz für den Pater. In der Nähe von Kiel, deshalb versetzte man ihn kurzerhand an eine Jesuitenschule in Hamburg. Später zog Wolfgang St. nach Freiburg und bekam dort wieder offenbar problemlos eine Stelle in St. Blasien im Schwarzwald. Auch in diesem Fall sei es „erstaunlich“, sagt Raue und beugt sich jetzt direkt vor den Mikrophonstrauß, „dass sich um die Nöte des Mitbruders gekümmert wurde, dass aber auch hier die Sicht der Opfer überhaupt nicht auftaucht.“ Ihr Eindruck sei, dass das Problem für den Orden mit dem Therapieplatz gelöst schien.

Auf den Brief gab es keine Reaktion des Ordens, zumindest nicht schriftlich. „Es ist für mich unverständlich, dass keine Schlüsse gezogen wurden“, sagt Ursula Raue.

Sie erhalte auch jetzt noch „unendlich viele Anrufe“ von Menschen, die über das, was ihnen angetan wurde, sprechen wollen. Im Zuge dessen seien weitere Namen von Patres gefallen, sagt Raue, doch sie habe noch keine Zeit gefunden, das zu prüfen. Den Vorwurf, sie habe ihre Arbeit nicht ordentlich erledigt – immerhin ist sie seit 2007 Missbrauchsbeauftragte und rollt erst jetzt die vielen Fälle auf – will sie nicht auf sich sitzen lassen. „Ich habe mein Amt so verstanden, dass ich die Fälle, die auf meinem Tisch liegen, bearbeite.“ Sie wirkt erleichtert, als die Pressekonferenz vorbei ist.

Ein paar Stunden später schickt der Provinzial eine Mitteilung. Das Ausmaß der Übergriffe sei „erschreckend und beschämend“. Man „danke den Opfern und Betroffenen, dass sie nicht mehr schweigen, sondern den Mut gefunden haben, uns mit ihren Erfahrungen zu konfrontieren“. Dass Frau Raue „in den Unterlagen des Ordens aus der damaligen Zeit kein Nachdenken darüber findet, was die Erfahrung des Missbrauchs bei Kindern oder Jugendlichen für Schäden anrichtet. Dazu sage ich: Dies ist eine Schande für einen Orden, der als eine seiner Hauptaufgaben das ‚animas iuvare' [den Menschen helfen] auf seine Fahnen geschrieben hat“. Dass Täter von einer Station der Jugendarbeit in die nächste geschickt wurden, erfülle ihn mit Scham und müsse aufgeklärt werden.

Ursula Raue will dazu eine Arbeitsgruppe zusammenstellen, darüber will Dartmann zunächst noch beraten.

Der Rektor des Canisius-Kollegs, der das ganze Thema angestoßen hatte, Pater Klaus Mertes, war am Donnerstag für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. In einer E-Mail an die Morgenpost schrieb er: „Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe.“ Nun werde er sich „mit allen meinen restlichen Kräften der direkten Kommunikation mit den Opfern der Missbräuche aus den 70er und 80er Jahren stellen und mich zugleich der Schule und den Schülern mit den Themen und Fragen, die sie heute haben, zuwenden.“

Rechtsanwältin Ursula Raue

foto: Sergej Glanze