Heute ist Feiertag in Marzahn: Vor 30 Jahre wurde der Bezirk aus der Taufe gehoben. Für viele bedeutete der Umzug in eine der 62.000 Wohnungen das ersehnte Ende von Außentoilette und Kohleheizung. Noch heute sprechen die Marzahner, die geblieben sind, von einer einzigen Erfolgsstory.
Wolfgang Adolf war dabei. Damals, als die Riesenkräne Elfgeschosser-Schlangen und Hochhäuser errichteten, als ehemaliges Ackerland in die größte Plattenbausiedlung der DDR verwandelt wurde. Adolf kam 1977 als Polier nach Marzahn. Selbst von Statur aus eher klein und mollig, errichtete er jedoch keine Hochhäuser. „Meine Truppe zog mit Wohnwagen wie ein Wanderzirkus von Baustelle zu Baustelle, um wie am Fließband Kaufhallen, Kitas, Wohngebietsgaststätten oder sogenannte Dienstleistungswürfel inmitten der neuen Wohnviertel zu bauen.“
Dieser „Wanderzirkus“ stand fast unter noch größerem Zeitdruck als die „Häuslebauer“-Kolonnen selbst. Ununterbrochen rollten Möbelwagen an. Aber an der nötigen Infrastruktur für die Bewohner haperte es gewaltig in der Plan- und Mangelwirtschaft. Rund 40 dieser so dringend benötigten gesellschaftlichen Einrichtungen tragen Adolfs Handschrift, darunter auch das Freizeitforum Marzahn, die größte Kulturstätte des Bezirks.
Wolfgang Adolf, der in seiner langen Berufslaufbahn an fast allen Großbaustellen in Ost-Berlin gearbeitet hat und mit hohen Auszeichnungen dekoriert wurde, wäre selbst gern gleich nach Marzahn gezogen. Etwas verbittert sagt er: „Ich musste allerdings bis 1988 warten, ehe ich in Marzahn eine Wohnung bekam und meine Altbaubude in Schöneweide endlich verlassen konnte.“ Als Single habe er einfach keine Chance gehabt, so Adolf. „Bitten und Betteln“, das habe er nicht gewollt, und der Eintritt in eine Wohnungsgenossenschaft sei für ihn nicht in Frage gekommen.
Honecker gegen Bezirksnamen "Biesdorf“
Heute vor 30 Jahren wurde Marzahn als eigenständiger Bezirk aus der Taufe gehoben. Die damalige Ost-Berliner Stadtverordneten-Versammlung hatte diesen Beschluss am 5. Januar 1979 gefasst. Es wurde offiziell entschieden, dass sich der neue Bezirk aus bisherigen Teilen Lichtenbergs und Weißensees mit Biesdorf, Hellersdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Marzahn zusammensetzt. Als Bezirk wurde Marzahn nur 22 Jahre alt. Er musste 2001 mit Hellersdorf fusionieren, das erst 1986 Bezirksstatus erhalten hatte.
Für die Plattenbau-Großsiedlung Marzahn war schon am 8. Juli 1977 an der Marchwitzastraße 41–45 die erste Platte gesetzt worden. Zunächst für etwa 35.000 Wohnungen konzipiert, wurden es schließlich im Zuge des ehrgeizigen Wohnungsbauprogramms der SED bis 1989 mehr als 62.000. Der finanzielle Gesamtaufwand wird auf 9,5 Milliarden DDR-Mark beziffert. Bei der Marzahner Bezirksgründung hatte SED-Chef Erich Honecker ein Machtwort gesprochen und selbst Proteste der Westalliierten in Kauf genommen. So sollte der Bezirk ursprünglich Biesdorf heißen. „Doch Honecker war der Auffassung, dass die Arbeiterklasse nicht auf einem Dorf leben könne“, erinnert sich Günter Peters, einst Ost-Berliner Stadtbaudirektor. So habe man den Namen Marzahn festgelegt, das damals allerdings auch nur ein Dorf war. Im Volksmund sprach man einfach von den „vereinigten Dörfern“.
Mit der Festlegung der Marzahner Bezirksgrenzen wurde auch Brandenburger Land in Ost-Berlin einverleibt, so im Raum Ahrensfelde. Eine Erweiterung des Territoriums war jedoch nach dem Vier-Mächte-Status der Stadt nicht gestattet. Doch Proteste der West-Alliierten gegen das eigenmächtige Vorgehen der DDR-Führung blieben recht verhalten. Politische Beobachter meinten, im Zuge des Entspannungsprozesses der KSZE-Schlussakte von Helsinki (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1975) habe die DDR einkalkuliert, dass der Westen keinen Ärger mache.
Die Gummistiefel von einst als Souvenir
Obwohl ringsum noch Baugruben und Schlammwüsten waren, rissen sich besonders junge Familien förmlich um die Wohnungen mit Bad und Fernwärme. Die neuen Bewohner waren heilfroh, ihren beengten Behausungen mit Ofenheizung und Außentoilette entkommen zu sein. „Stolzer Erstbezug von Januar 1978“ an der Marchwitzastraße sind Günter und Ursula Ortwig. „Die Gummistiefel von einst halten wir als Souvenir in Ehren“, sagen die heutigen Rentner. Marzahn sei „eine richtige Erfolgsstory unseres Lebens“. Von wegen grau und öde: „Alles wurde schön grün, die meisten Häuser sind modernisiert, haben bunte Fassaden.“
Das sieht Ingrid Malue (62) genauso und spricht von „echt großstädtischem Flair“. Nach elf Jahren in einer Einraum-Wohnung in Prenzlauer Berg, zog sie 1980 mit Mann und kleinem Sohn in ein geräumiges Zuhause an der Allee der Kosmonauten. Mit Blick auf den „Gott sei Dank erhaltenen, wunderschönen“ alten Dorfkern. „Ein unbeschreibliches Glücksgefühl“, wenn auch Marzahn damals nur eine Schlafstadt gewesen sei. „Und es war uns egal, dass wir immer auf dem Weg zur Arbeit die Schuhe wechseln mussten, um sauber anzukommen.“ Geschäfte gab es kaum. Lebensmittel habe man sich eben aus der Stadt mitgebracht.
Davon konnte auch der erste Marzahner Bürgermeister Gert Cyske ein Lied singen. Er musste in Hauruck-Aktionen für die Einrichtung von mobilen Verkaufscontainern sorgen. Da anfangs auch Krippen und Kitas fehlten, heuerte die Verwaltung eine sogenannte „Bummi-Straßenbahn“ an. Sie brachte Eltern mit ihren Kindern in Betreuungseinrichtungen des Nachbarbezirks Lichtenberg.
Die Singvögel sind zurückgekommen
Seit der Wende haben 35.000 Menschen Marzahn den Rücken gekehrt. Die Folge war ein hoher Leerstand, der 2003 bei der Wohnungsbaugesellschaft Degewo die Rekordmarke von 17,9 Prozent erreichte. Das „Stadtumbau Ost“-Programm sorgte für eine Kehrtwende. Seit 2002 flossen dafür mehr als 62 Millionen Euro nach Marzahn. Es umfasste 4632 Wohnungen in maroden Plattenbauten. 3538 wurden abgerissen, die anderen saniert oder umgebaut. Degewo-Vorstand Frank Bielka sagt: „Mit 7,3 Prozent Leerstand haben wir aktuell den historischen Tiefpunkt erreicht, mit Tendenz nach unten.“ Mit dem demografischen Wandel kommt noch ein anderes Problem auf den Großbezirk Marzahn-Hellersdorf zu. Noch vor wenigen Jahren altersmäßig der jüngste Bezirk Berlins, beträgt das Durchschnittalter jetzt 41,1 Jahre. Bürgermeisterin Dagmar Pohle (Linke) weiß: „In 15 bis 20 Jahren werden wir der älteste Bezirk Berlins sein.“ Marzahn-Süd sei jetzt schon einer der ältesten Stadtteile.
Das Gründungsjubiläum wird heute mit einer Festveranstaltung im Freizeitforum begangen. „Doch das ganze Jahr soll gefeiert werden“, so die Bürgermeisterin. Die größte Party findet am 12. und 13. September in den sieben „Gärten der Welt“ des Erholungsparks Marzahn statt.
Der ehemalige Polier Wolfgang Adolf lebt heute in einem Plattenbau im Norden Marzahns mit Blick auf die neue hügelige „Schorfheidelandschaft“, die gerade auf Abrissflächen im Entstehen ist. Das sei etwas Unverwechselbares: „Selbst die Singvögel sind in die ,Platte’ zurückgekommen.“