Rudow muss so etwas wie eine Insel sein, in Berlin. Eine Insel von der alle sagen, dass hier die Welt noch in Ordnung ist. Und auf der diejenigen, die das sagen, sich für ein besonderes Völkchen halten. Darauf sind sie auch noch stolz. Einer von ihnen ist Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Neukölln.
Neuköllns Bezirksbürgermeister mag deutliche Worte, das ist bekannt. Auch und gerade, wenn es um seinen Bezirk geht. Mit einer Ausnahme: dem Süden. Bei Rudow wird Heinz Buschkowsky mild. Bei Rudow lässt er sich hinreißen zu Sätzen wie: Da sei die Welt noch in Ordnung. Da gingen die Uhren noch anders. Da wohne ein „besonderes Völkchen“.
Das mag damit zu tun haben, dass Buschkowsky hier geboren wurde, aufwuchs, lebte, fast 50 Jahre: „Was wollen Sie von einem alten Rudower schon hören“, sagt er, was natürlich ein Argument ist. Tatsächlich aber sagen fast alle, neuen, alten, ewigen Rudower das Gleiche. Vor allem das von der Ordnung ihrer Welt.
Sie beginnt rund um den U-Bahnhof, Endbahnhof der U7, an einem Platz, der kein richtiger mehr ist und „Spinne“ genannt wird. Er heißt so, weil es in der Mitte eine Art Parkinsel (den Körper) gibt, und ziemlich viel abgehende Straßen (die Beine) – von oben erinnert das mit viel Fantasie an eine Spinne. Von unten sieht es nach nicht so viel aus (Straßen, Durchgangsverkehr, Supermarkt, Durchgangsverkehr). Das denken auch die meisten Menschen, die hier jeden Tag stehen und auf den Bus zum Flughafen Schönefeld warten. Wer nicht wartet, sondern um die Ecke biegt, weiß es besser. Da tauchen Kopfsteinpflaster auf und Backsteinfassaden – der Giebel der alten Schule und die Spitze des Kirchturms. Da lässt sich erkennen, dass sich das zu einem hübschen Ensemble fügt, trotz vieler Neubauten.
Zu wörtlich darf man das mit der Ordnung in Rudow nicht nehmen. Schon die Siedlungsgeschichte verlief eher durcheinander. Unterschiedliche Vermutungen über die Ortsgründung – vielleicht 12., sicherer 13. Jahrhundert. Andere Formen als die übrigen Dorfanlagen um Berlin. Ein Auf und Ab der Einwohnerzahlen über die Jahrhunderte. Stetig mehr wurde es eigentlich erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, richtig dicht besiedelt nach dem Ersten Weltkrieg. „Lufthungrige“ Städter flüchteten nach Rudow, bauten, bauten und bauten. Zwischen, hinter und vor den Häusern: Kleine Äcker, eine Handvoll Tiere.
Eine eher untergeordnete Rolle spielte beim frenetischen Bauen allerdings sanitäre Anlagen, sagt Manfred Ziemer. Zum Baden traf man sich daher lange Zeit im Keller der alten Dorfschule. Ein bisschen gesellschaftlicher Mittelpunkt ist sie bis heute. Kommt man abends an ihr vorbei, dann sind die Fenster mit ziemlicher Sicherheit hell erleuchtet. Die Türen stehen auf, Kinder mit Geigenkästen rennen heraus, eine Lesegruppe liest, eine Malgruppe malt. Im Hintergebäude hat sich der Heimatverein eingerichtet, zwischen akribisch gesammelten Möbeln, Stoffen, Bildern, Modellen von „früher“. Tagt er, sind die Stuhlreihen dicht besetzt.
Alle sind konzentriert, alle schreiben mit, Ausstellungen müssen geplant, Termine abgesprochen werden, und, ja: Es ist auch bald Weihnachten. Manfred Ziemer ist der Vorsitzende. Er sagt, es gäbe einen besonderen Zusammenhalt, hier, in ihrem Rudow. Er zeigt auf volle Vitrinen, Regale, Schubläden: alte Utensilien von Bäckern, Tischlern, Schlossern. Spielzeug. Eine große Sammlung Handwerk. „Auch für die Kinder. Die wissen ja sonst nicht, wie das früher war.“
Natürlich hat sich einiges verändert, in den letzten Jahrzehnten, in Rudow. Nicht nur, weil die Mauer weg ist, in deren Schatten der südlichste Zipfel Berlins vor sich hin dösen konnte. Wo einmal Feldern waren, steht jetzt die Gropiusstadt, wo das Autokino wartete, die Gartenstadt. Der Milchhof Mendler ist einer der wenigen Bauern, die übrig blieben. Läden haben geschlossen, Supermarkketten aufgemacht.
Und doch: es gibt sie noch, die Rudower Handwerker. Die kleinen Läden, die in der Familie bleiben. Den Automatismus, mit dem man im Laufe der Jugend dem Sportverein TSV beitritt. Die Leute, die sagen, sie fahren „ins Dorf“, wenn sie in Alt-Rudow einkaufen gehen. Und selbst die, die dafür lieber in die näher gerückte Stadt fahren – spätestens im Advent sind sie da. Zum Weihnachtsmarkt, da kommen absolut alle. Auch Heinz Buschkowsky. Und wenn er durch die Budenreihen läuft, dann ist er nicht der Bezirksbürgermeister. Dann ist er „Heinzi“. Einer von hier.
>>> Nächste Folge der Serie "Das ist Berlin": Siemensstadt und Haselhorst.