Siemens hat die Gegend geprägt. Die Lage am Rande einer Hautpstadt mag mitunter von Nachteil sein – vor allem dann wenn es um Arbeitsplätze geht. Die Bewohner haben sich dennoch ihren Stolz auf ihre Industrievergangenheit bewahrt.

Wer über Vergangenheit und Gegenwart der Siemensstadt etwas erfahren will, kommt an Karl H.P. Bienek nicht vorbei. Seit Jahren trägt er zusammen, was es über Elektropolis, über das Haus Siemens und den nach dem Unternehmen benannten Spandauer Ortsteil zu finden gibt. „Geschichte zweier Innovationen“ nennt er seine Chronik ( www.siemens-stadt.de ).

Faktenreich, detailverliebt, präzise schildert er die Geschichte des Weltunternehmens und der Siedlung, die im kommenden Jahr 110 Jahre alt wird. Was macht die Siemensstadt seiner Meinung nach aus? „Leben im Grünen, Wohnen, Arbeiten, das war der Dreiklang, der die Siemensstadt berühmt gemacht hat.“

Zwischen dem Jahr 1899, dem Gründungsdatum des Kabelwerks, und 2009 hat sich Dramatisches ereignet. Siemens verlegt zunächst alle in Berlin verstreuten Werkhallen nach Siemensstadt – und revolutioniert in den nachfolgenden 100 Jahren die Elektro- und Nachrichtentechnik. 1906: erster Staubsauger für den Hausbetrieb; 1935: erstes Koaxialkabel zur Informationsübertragung; 1958: Einsatz des ersten Herzschrittmachers der Welt; 1982: Erstentwicklung eines 64-Kilobit-Speicherbausteins in Europa. 2003 hat das Unternehmen weltweit 45.000 Patente.

Gleichzeitig setzt Siemens Maßstäbe im Umgang mit den Mitarbeitern. Siemens baut Wohnungen: die Siedlung Siemensstadt. Gibt Geld für Kirchen, Schulen, Kindergärten. Über sogenannte weiche Standortfaktoren hat man nicht geredet. Man hat sie geschaffen. Zur Blütezeit Ende der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zählt das Unternehmen fast 66.000 Beschäftigte. Heute sind es noch gut 12.000.

Siemensstadt – Spiegelbild einer weltweiten Entwicklung. Rationalisierung verändert die Arbeitswelt radikal – und den Stadtteil dramatisch. „Ja, man wohnt hier gern“, sagt Karl Bienek, „aber die Fürsorge von einst ist völlig verloren gegangen.“

Erhalten hat sich die Begeisterung der Siemensstädter für den Sport. Am Rohrdamm liegt das Sport Centrum Siemensstadt. Es ist die größte öffentliche multifunktionale Sportanlage Berlins. Schwimmen, Yoga, Tennis, Fußball, Tanzsport. „700.000 Besuche zählen wir im Jahr“, sagt Geschäftsführer Hartmut Neumann. Betrieben wird das Zentrum vom drittgrößten Sportverein Berlins, dem SC Siemensstadt.

Mit Superlativen wird auch die vom Backstein dominierte Industriearchitektur gern belegt. Und die unter anderem von Hans B. Scharoun entworfene und 1931 fertiggestellte Ringsiedlung ist seit Juli 2008 Unesco-Welterbe. Darauf ist man hier stolz.

Sorge bereite allerdings die Bevölkerungsstruktur, sagt Daniel Buchholz, der für die SPD den Siemensstädter Wahlkreis im Abgeordnetenhaus vertritt. „Das gilt auch für Haselhorst“, den im Westen angrenzenden Ortsteil. „Beide Kieze sind auffällig.“ Noch gibt es kein Quartiermanagement wie in Neukölln. Nötig wär’s vielleicht. „Die gut verdienenden Facharbeiter von Siemens, die hier früher im Grünen gewohnt haben, sind weg.“ Heute leben viele Deutsche aus Russland in den ehemaligen Siemens-Hochhäusern entlang der Gartenfelder Straße.

Ach wäre doch nur ein Kerl wie Artur Brauner darunter. Der im polnischen Lodz geborene heute 90-Jährige hat 1949 in einem alten Fabrikgelände auf der Insel Eiswerder die Studios seiner Central Cinema Company eröffnet. 500 Filme sind seither gedreht worden. Brauner hat Sonja Ziemann und Elke Sommer entdeckt, mit Heinz Rühmann den „Schwejk“ gedreht, aus Spandau ein Stück Hollywood gemacht. Traummaschine Haselhorst.

Als die Modemesse Bread & Butter im Siemens-Kabelwerk an der Gartenfelder Straße ihr Berlin-Debüt gab, hat auch der SPD-Abgeordnete Buchholz geträumt – vom Aufschwung. Doch die Messe ist weitergezogen – ins Zentrum. Die Lage an der Peripherie – Siemensstädter und Haselhorster nehmen es gelassen. Mag sein, dass weitere Arbeitsplätze verschwinden. Eines wird bleiben: der Stolz auf ein Stück Industrie- und Architekturgeschichte, die weltweit ihresgleichen sucht.

>>> Nächste Folge der Serie "Das ist Berlin": Reinickendorf.