Dem jungen Mann in Knickerbocker und Pullunder ist die Erschütterung am Gesicht abzulesen. Mit einem Besen in der Hand geht er an den Scherben vorbei, die noch am Tag zuvor die Schaufenster jenes Ladens waren, in dem er arbeitet. Er muss aufräumen, was in der vorangegangenen Nacht mutwillig zerstört worden ist. Der Junge, offensichtlich Lehrling des zerstörten Geschäftes, muss die Trümmer beiseite räumen und versuchen, so viel wie möglich zu retten. Doch großen Erfolg hat er dabei nicht – zu gründlich ist der Mob aus SA-Leuten, Hitler-Jungs und plündernden Berlinern bei seinem Zerstörungswerk gewesen.
Die Fotografie mit dem jungen Mann ist ohne Zweifel das bekannteste Bild, das die Ereignisse in Berlin während der schlimmen 36 Stunden der Novemberpogrome vor genau 70 Jahren illustriert. Vom späten Abend des 9. bis zu den Morgenstunden des 11. November 1938 wurden in der Reichshauptstadt Dutzende Synagogen geschändet und verwüstet; bei wohl über tausend Geschäften jüdischer Inhaber schlug der NSDAP-Mob die Fenster ein und zerstörte die Auslagen. Was übrig geblieben war, nahmen ganz normale Berliner an sich, obwohl die Polizei eigentlich Anweisung hatte, jede Plünderung zu unterbinden.
Das Foto ist in ungezählten Katalogen und Schulbüchern abgedruckt, in vielen Fernsehdokumentationen ausgestrahlt worden. Doch erst der Historiker Ulrich Baumann von der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und seine Mitarbeiter haben die ganze Geschichte geklärt, die hinter dieser berühmten Fotografie steckt. Es ist eine Geschichte, die in einem Schicksal die ganze Grausamkeit der als „Reichskristallnacht“ bekannt gewordenen Ereignisse des schlimmsten antisemitischen Pogroms in Mitteleuropa erschütternd bündelt: die Geschichte der Familie Kaliski.
Wer sich gut bettet, der schläft gut. Das wusste Siegfried Kaliski und gründete 1903 sein Bettenfachgeschäft. Die Lage seines Ladens war exzellent: Tauentzienstraße 7b an der Ecke zur Nürnberger Straße. Bester Berliner Westen, gelegen inmitten des wohlhabenden Charlottenburg, nicht weit vom KaDeWe. Kaliski, der Daunendecken aus eigener Produktion anbot, dazu Bettfedern, Matratzen und Schlafsofas, aber auch komplette Schlafzimmereinrichtungen, war ein guter Geschäftsmann, der die Wünsche seiner Kundschaft früh erkannte. So erfolgreich war die Firma, dass sie mehrere Filialen in und außerhalb Berlins eröffnete. Allein der Eckladen am Tauentzien erzielte Anfang der dreißiger Jahre einen jährlichen Umsatz von etwa 700.000 Reichsmark. Das sicherte der Inhaberfamilie ein Jahreseinkommen von mehr als 40.000 Reichsmark – doppelt so viel, wie ein Reichsminister bekam. Die Kaliskis waren eine erfolgreiche Berliner Unternehmerfamilie.
Schattenseite des Erfolges
Doch wer Erfolg hat, der hat oft auch Neider. Weil die Familie Kaliski jüdisch war, geriet sie schon in der Weimarer Republik ins Visier antisemitischer Ideologen. Seit dem Regierungsantritt der NSDAP am 30. Januar 1933 wurde aus dem Druck auf jüdische Geschäftsleute offizielle Politik. Am 1. April 1933 wurde der Laden von Siegfried Kaliski ebenso wie die meisten Geschäfte jüdischer Inhaber von SA-Leuten blockiert. Doch der Boykott hatte bei den „arischen“ Berlinern nicht den von Goebbels erwarteten Erfolg und wurde nach wenigen Stunden beendet. So betrieb die Familie ihr Geschäft vorerst weiter; mehrere der Filialen wurden von Kindern der Kaliskis geleitet.
Unter dem zunehmenden Druck der Behörden litt Siegfried Kaliski; er starb am 17. April 1937 in Berlin. Sein Sohn Kurt, der bereits während der vorangegangenen Krankheit seines Vaters das Geschäft am Tauentzien geleitet hatte, führte es weiter; seine bereits 77 Jahre alte Mutter Charlotte Kaliski übernahm als Erbin die Anteile ihres Ehemannes. Doch das Geschäft sollte nach dem Willen der NSDAP so wenig Zukunft haben wie die anderen jüdischen Unternehmen, die es noch in Hitler-Deutschland gab. Kontinuierlich wurden neue Schikanen erfunden. Im Juni 1938, während eines von Goebbels bewusst inszenierten Pogroms gegen jüdische Berliner, wurde Kurt Kaliski ins KZ Sachsenhausen verschleppt.
Nach dem Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris am 7. November 1938 steigerte die längst gleichgeschaltete Presse ihre Hetze gegen die deutschen Juden abermals. Die Situation war gespannt wie nie zuvor; der Korrespondent der „Times“ meldete seinen Leser nach London: „Die noch im Dritten Reich verbliebenen 400.000 Juden erwarten heute Nacht in Furcht und Angst einen erneuten Angriff auf ihre Rasse, der, sofern der Ton der amtlich gelenkten Presse als Anzeichen gewertet werden kann, an Gewalttätigkeit und Rohheit jeden während der vergangenen fünf Jahre stattgefundenen übertreffen wird.“
Explosion der Gewalt
Genau so kam es: Seit kurz nach 23 Uhr waren mehrere SA-Einheiten auf dem Tauentzien und dem Kurfürstendamm unterwegs. Erich Kästner, der von den Nazis verfemte Schriftsteller, erlebte, was dort geschah: „Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Reithosen und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen.“
Wann genau die Scheiben des Geschäftes Kaliski eingeschlagen wurden, ist unbekannt. Am folgenden Morgen jedenfalls, dem 1. November 1938, bot sich den Angestellten ein Bild der Verwüstung. Else Frankenheim bezeugte 15 Jahre später an Eides Statt, dass sie Augenzeugin der Verwüstung war. Auch Charlotte Kaliski, die Eigentümerin des größten Geschäftsanteils, erlebte die Krawalle mit: „Das Geschäft wurde bei dem Pogrom 1938 völlig zerstört. Ich verarmte vollständig.“
Denn die Nazis kamen – mit erschreckendem Einfallsreichtum – auf zusätzliche Ideen, um die deutschen Juden zu drangsalieren: Die Inhaber der zerstörten Läden mussten auf eigene Kosten die Schäden beseitigen, also vor allem neue Schaufenster einbauen lassen. Weil in Deutschland nicht genügend große Scheiben vorrätig waren, mussten sie teilweise aus Belgien gegen Devisen Scheiben importieren. Den Versicherungen wurde untersagt, die bestehenden Policen an ihre Vertragspartner auszuzahlen; das Geld floss stattdessen direkt in den Reichhaushalt. Zudem beschloss eine Ministerrunde bei Hermann Göring am 12. November, dass alle jüdischen Geschäfte zum 1. Januar 1939 aufzulösen seien. Wer bis dahin keinen „arischen“ Betreiber gefunden hatte, der das Geschäft übernahm (fast immer weit unter dem eigentlichen Wert), dessen Geschäft wurde zwangsweise geschlossen.
Charlotte Kaliski und einige ihrer Angehörigen gelang es, sich Anfang 1939 eine Ausreiseerlaubnis zu beschaffen. Sie entkamen im beinahe letzten Moment in die USA. 14 Jahre später versuchte die inzwischen hochbetagte Geschäftsfrau, in Deutschland eine Entschädigung für ihr Geschäft zu bekommen. Noch mit 94 Jahren nahm sie es auf sich, detailliert in unzähligen Unterlagen nachzuweisen, wie übel ihr in den Novemberpogromen mitgespielt worden war.
Zum Beweis, dass sie auch tatsächlich die Wahrheit sagte, fügte Charlotte Kaliski ihrem Antrag an das Entschädigungsamt West-Berlin einen Ausschnitt aus der New York Times vom 20. November 1938 bei. Er zeigt groß das Foto ihres Lehrlings beim Aufräumen. Weitere Unterlagen in der Akte, die Ulrich Baumann für die Ausstellung „Es brennt!“ im Centrum Judaicum ausgewertet hat, beweisen, dass sie die Wahrheit sagt. Über das Foto schrieben Charlotte Kaliski und ihre ebenfalls emigrierte Tochter: „This is one side of our store“ („Dies ist eine Seite unseres Geschäftes“).
Trotzdem zog sich das Entschädigungsverfahren über Jahre hin; Charlotte Kaliski erlebte das Vergleichsangebot des Entschädigungsamtes nach Aktenlage nicht mehr. Wie viele ähnliche Fälle in den erst seit kurzem zugänglichen Unterlagen noch schlummern, weiß niemand. Es dürften allein für Berlin Dutzende, wenn nicht Hunderte sein. Auch nach 70 Jahren bleibt noch viel aufzuarbeiten.