Am Schluss sagt Jutta Frost doch noch etwas ganz Persönliches – etwas, das sehr nahe geht. Sie sagt es ganz nüchtern, als würde sie es nur konstatieren wollen, scheinbar nebenbei. „Egal, wo ich hinkomme, ich habe immer noch das Gefühl, dass ich abgelehnt werden könnte.“
Jutta Frost ist 82 Jahre alt. Sie sitzt auf dem Sofa ihrer neuen Wohnung in Zehlendorf. Erst vor einem Jahr ist sie wieder angekommen in Berlin. Die Sonne scheint durch die große Fensterfront und taucht die Wohnung in warmes, freundliches Licht. Jutta Frost ist zufrieden. „Ich bin wieder nach Berlin gekommen, weil ich Berlinerin bin.“
Jutta Frost steht auf und holt eine Karte. Ein Spruch von Simone Veil, der französischen Politikerin und Jüdin, die Auschwitz überlebte, steht darauf geschrieben. Darin heißt es: „Die Entwurzelung ist bei Weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft.“ Ein Spruch, der Jutta Frost sehr wichtig ist. Was Entwurzelung bedeutet, weiß Jutta Frost genau.
Es war vor 69 Jahren, im Februar des Jahres 1939. Ihre Eltern und ihre vier Geschwister wohnen im schönen Dahlem, Am Hirschsprung. Der Vater ist der deutsche Diplomat und evangelische Theologe Adolf Freudenberg, ihre Mutter Elsa ist getaufte Jüdin. Jutta ist 13 Jahre alt, hat „ein tolles Elternhaus“ und eine „schöne Kindheit“. „Ich sehe die Szene im Hirschsprung noch genau vor mir. Mein Vater ruft meine Mutter, mich und drei meiner vier Geschwister im Wohnzimmer zusammen und eröffnet uns: ,Wir emigrieren'.“ Ein Schock für die Kinder, der Zeit ihres Lebens Spuren hinterlässt. Der Vater sieht den Schutz seiner jüdischen Frau und seiner „halbjüdischen“ Kinder nicht mehr gewährleistet. Noch im Februar würden die Eltern nach London gehen, die Kinder einen Monat später folgen.
„Ganz scheußlich“, beschreibt Jutta Frost das Gefühl, das sie damals ergriff. Später, nach dem Krieg, wird ihre große Schwester Brigitte Gollwitzer in einem Brief schreiben: „Die Jutta hat das nicht so mitgenommen, aber uns.“ Jutta Frost ist heute noch darüber verwundert. „Denn ich weiß, ich habe nächtelang geweint. England. Ein Albtraum.“ Doch die Reise geht nach England, später in die Schweiz. Warum sie emigrieren müssen, weiß Jutta Frost damals nicht ganz genau. Doch sie kann sich an drei, vier Begebenheiten erinnern, die sie heute als bedrohlich und erniedrigend einstuft.
„Mein Vater war bereits 1934 aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden, weil nach 1933 Juden von den Nazis aus dem öffentlichen Dienst rausgeekelt wurden.“ Er gehörte der Bekennenden Kirche an und fing an, in Basel Theologie zu studieren. Trotz der Abwesenheit des Vaters war die Kindheit zu Hause schön, erinnert sich Jutta Frost. Jeden Morgen ging sie vor der Schule mit ihren Freundinnen zur Morgenandacht in der Sankt Annen Kirche. An ihren Lehrer erinnert sie sich genau. „Ein scheußlicher Klassenlehrer, der war Nazi, hatte im ersten Weltkrieg ein Bein verloren und hinkte. Er schikanierte mich, da ich als Halbjüdin nicht beim Bund deutscher Mädel war.“ Das war 1938 und in der Gertraudenschule. Jutta war zwölf Jahre alt.
Der Morgen des 10. November 1938 ist Jutta Frost besonders präsent. Sie war wie immer nach der Andacht in die Schule gekommen, als der Klassenlehrer nach dem Heil-Hitler-Gruß in die Klasse fragt: „Wer weiß, was heute Nacht Schönes passiert ist?“ „Da steht in der ersten Reihe Isolde auf, die Jungmädelführerin war, und erzählt, dass Geschäfte geplündert, Scheiben eingeschlagen und Synagogen niedergebrannt wurden. Mir wurde furchtbar schlecht.“
Als Jutta nach Hause geht, hat sie eine Riesenwut, dass ihre Mutter ihr nichts erzählt hat und sie ahnungslos in der Schule von den Ereignissen überrascht wurde. „In Dahlem war ja nichts passiert. Da waren keine Geschäfte und auch keine Synagoge.“ Doch auch ihre Mutter hatte nichts gewusst, sondern war ebenfalls ahnungslos zum Kudamm gefahren und ganz schnell wieder umgekehrt, als sie die zerschlagenen Fensterscheiben sah. Die Ereignisse nimmt sie nun zum Anlass, ihre Tochter einzuweihen.
Mann mit Kind im Keller versteckt
„Meine Mutter sagte, du bist die erste, die heute aus der Schule kommt. Was ich dir jetzt sage, darfst du auf gar keinen Fall deinem jüngsten Bruder sagen.“ Die Mutter erzählt ihrer Tochter, dass sie im Heizungskeller einen Mann mit einem vierjährigen Kind versteckt hat, der ein Ausreisevisum nach Holland hat, aber erst einmal verschwinden musste. „Das, was mir meine Mutter da offenbarte, war meine direkte Erfahrung mit der Pogromnacht.“ Bis zur Emigration sind es nur noch vier Monate. Das aber weiß Jutta damals noch nicht.
Im Februar 1939 hatte der Vater vom Bischof von Chicester einen „Affidavits“, eine Bürgschaftserklärung für die Emigration, bekommen. Es folgen drei Monate in England, dann geht es in die Schweiz, wo Jutta in Genf ein Internat besucht und der Vater im Weltrat der Kirche Flüchtlingsarbeit aufbaut. Jutta lernt Kindergärtnerin und kehrt 1947 mit der Familie nach Deutschland ins hessische Bad Vilbel bei Frankfurt/M. zurück. Sie heiratet, hat acht Kinder und bleibt 60 Jahre im elterlichen Haus.
Doch das wurde ihr im vergangenen Jahr zur Last und sie entschloss sich, wieder nach Berlin zu gehen. In der Rückschau sagt sie: „Uns ging es nie schlecht. Was ich nachträglich aber erstaunlich finde, ist, wie viele Menschen damals zu schäbigen Handlungen bereit waren. Sie hätten auch großzügiger sein können.“
Jutta Frost spricht am Sonnabend, 08.11.08, um 19 Uhr in der evangelischen Kirche in Dahlem, Thielallee 1