Jeder Schüler schätzt freie Tage. Das galt auch am 9. November 1938 für den damals 17-jährigen Heinrich Simon. Es war ein Mittwoch. Schule fand nicht statt, allerdings nicht in Erinnerung an die Revolution von 1918, sondern wegen des 1923 gescheiterten Hitlerputsches in München. Für die Nazis war der 9. November der höchste Feiertag, wichtiger als Weihnachten und Ostern zusammen; vielleicht nur noch übertroffen von der Bedeutung von „Führers Geburtstag“ am 20. April. Simon heute: „Ich erinnere mich, dass ich am Vormittag zum Klavierunterricht fuhr, und sehe mich vor meinem geistigen Auge immer noch unterwegs von Bahnhof Tiergarten durch Siegmunds Hof gehend, um dann in die Solinger Straße zu gelangen. Der Tag verlief völlig normal.“
Das änderte sich jedoch rasch: „Als ich am folgenden Morgen das Haus verlassen hatte, um zur Schule zu gehen, sah ich in der Kantstraße, die ich entlanggehen musste, um zum Bahnhof Savignyplatz zu kommen, zerbrochene Fensterscheiben jüdischer Geschäfte und auch Ansammlungen von Menschen. Dass etwas Ungewöhnliches vorging, wurde mir sofort klar.“ Simon hatte sich etwas den Fuß verstaucht und konnte deshalb nur hinkend und langsam gehen. Für ihn war das ein ungeheures Risiko, denn: „Wenn hier in irgendeiner Weise gegen Juden vorgegangen wurde, wäre ich zu einer vielleicht erforderlichen Flucht nicht in der Lage gewesen. Darum kehrte ich um und ging wieder nach Hause.“
Natürlich dachte Heinrich, dass er am folgenden Tag wieder in die Schule gehen würde, aber es kam anders: „Wir fanden einen Brief der Schule vor (Post kam damals morgens und am Spätnachmittag), der kommentarlos ein Abgangszeugnis enthielt.“ In dem Zeugnis des Friedrichswerderschen Gymnasiums hieß es, dass Heinrich „die Schule verlasse, um eine andere Schule zu besuchen“. Die Zensuren waren recht durchschnittlich ausgefallen; das Zeugnis war offensichtlich angelehnt an das Herbstzeugnis, bei dem es üblich war, die Zensuren zu drücken, um die Schüler im Hinblick auf die Versetzung zu Ostern zu besonderen Anstrengungen zu stimulieren.
Jahrzehnte später erinnerte sich Heinrich Simon: „Meine Mutter war mit dem Zeugnis nicht einverstanden und ging darum an einem der nächsten Tage in die Schule. Sie verlangte erstens, dass der wahre Grund meines Ausscheidens angegeben werde, zweitens dass mir zusätzlich ein Führungszeugnis ausgestellt werde, wie es im Falle des Ausscheidens üblich war und schließlich, dass die herab gedrückten Noten nachgebessert werden.“
Der Lehrer war fair genug, dieses Ansuchen zu akzeptieren: „Ich bekam nach einigen Tagen ein anderes Zeugnis mit besseren Noten und dem Vermerk, mein Ausscheiden erfolge auf Anordnung der zuständigen Behörde.“ Zusätzlich bekam Heinrich ein Führungszeugnis, laut dem er das Abitur ohne Zweifel bestanden hätte. „Dies war durchaus anständig von dem Lehrer. Dass es sich ergab, dass ich in der Tat noch ein Abitur machen konnte, wusste in jenen Novembertagen niemand, aber der Vermerk hätte vielleicht später ein nicht abgelegtes Abitur ersetzen können.“
Die beiden Zeugnisse, die Heinrich Simon seit damals aufbewahrt hat, tragen das Ausstellungsdatum 11. November 1938. Das ist bemerkenswert, denn erst vier Tage später erging die Anweisung, dass deutschen Juden von „arischen“ Schulen abzugehen hatten. Offenbar ging Simons Relegation nicht auf diese Anweisung zurück.