Morgenpost Online: Seit 1996 verlegen Sie Stolpersteine. Wie viele sind es?
Gunter Demnig: Insgesamt müssten es ungefähr 17.000 sein. An 379 Orten in Deutschland. In Ungarn, Österreich, Polen, der Tschechischen Republik, den Niederlanden. Demnächst wird es auch Stolpersteine in Frankreich geben, aus Italien und Griechenland gibt es Anfragen. Es nimmt langsam die Formen an, die ich mir gewünscht habe.
Morgenpost Online: Aus dem Projekt ist das größte dezentrale Mahnmal der Welt geworden. Haben Sie damit gerechnet?
Gunter Demnig: Überhaupt nicht. Ich will auch in Zukunft keine Fabrik draus machen. Jeder einzelne Stein zählt – und das, was bei den Verlegungen passiert. Das ist eine soziale Kultur geworden. So viele Begegnungen. Einmal kamen Enkel eines Deportierten extra aus Israel. Als sie vor dem Haus ihres Großvaters standen, sagten sie: Wir wissen gar nicht, wie er aussah. Es ist alles vernichtet worden. Da ging einer der Nachbarn rein, holte ein Klassenfoto. Er ist mit ihm zur Schule gegangen. Da weißt Du, warum Du das machst.
Morgenpost Online: Wie kam es zu der Idee?
Gunter Demnig: Anfang der 90er-Jahre habe ich in Köln eine Spur aus Kreide, später Messing gelegt, um an die Deportation von Sinti und Roma zu erinnern. Es kam eine ältere Dame, die sagte: „Guter Mann, schön, dass Sie das machen, aber hier haben niemals Zigeuner gelebt.“ Ich habe ihr meine Unterlagen gezeigt, und ihr ist das Kinn runtergeklappt. Das war es: erinnern. Die Namen zurückbringen. Ein Mensch ist vergessen, wenn der Name vergessen ist. Die Steine haben noch einen Effekt: Um den Text darauf zu lesen, muss man sich verbeugen. Vor dem Opfer.
Morgenpost Online: Den ersten Stolpestein haben Sie in Berlin verlegt, illegal damals noch.
Gunter Demnig: Es gab damals eine Ausstellung in der Oranienstraße, „Künstler forschen nach Auschwitz“. Ich habe 50 Steine gemacht, mich mit dem Auto ins Halteverbot gestellt und angefangen zu verlegen, von der Skalitzer bis zum Moritzplatz. Reaktion: keine. Die Berliner sind stur. Die fragen nichts.
Morgenpost Online: Sie sind selber Berliner.
Gunter Demnig: Ja, eben. Deswegen kann ich das sagen. Die Steine wurden später legalisiert. 2000 kam dann ein Anruf aus Südafrika: Ob es möglich wäre, auch in der Naunynstraße einen Stein zu verlegen. Als wir nachfragten, beim Tiefbauamt, sprangen die sofort im Dreieck: Sie seien damals schon politisch erpresst worden. Aber wenig später hat sich die BVV der Sache angenommen und sie durchgebracht.
Morgenpost Online: Es gibt bis heute Kritik: von Tiefbauämtern wegen Unfallgefahr. Von einigen Hausbewohnern. Von Menschen, die nicht wollen, dass auf den Opfern „herumgetrampelt“ wird.
Gunter Demnig: Es wäre ja komisch, wenn das Projekt allen gefallen würde. Es werden ja auch Steine wieder herausgerissen. Es kommen Fragen wie: Was soll das nach 60 Jahren? Aber sie kommen selten. Gerade für die Angehörigen der Opfer sind die Steine sehr wichtig. Viele werden auch von Hausbewohnern initiiert. Und die „bewachen“ die Steine auch. Kommt es zu Angriffen, dann schreiten die sofort ein.
Morgenpost Online: Haben wir eine ausreichende Erinnerungskultur?
Gunter Demnig: Es wird einiges getan. Es hat ja auch lange genug gedauert. Die Steine schaffen dabei etwas, was mit einer zentralen Gedenkstätte nicht zu schaffen ist: Das Individuelle. Wenn man sich das Schicksal einer Familie erarbeitet, geht es nicht mehr um abstrakte Zahlen. Sehr wichtig ist mir die Arbeit mit Schülern geworden. Ich bin vorher gewarnt worden: Die wollen nicht, das Thema hängt ihnen zum Halse raus. Das Gegenteil war der Fall. Als es bei einer Veranstaltung wieder mal die Frage gab, ob die Steine nicht gefährlich seien, wegen der Rutschgefahr, sagte ein Hauptschüler: Nein, denn man stolpere mit dem Kopf. Und mit dem Herzen. Besser kann man es nicht sagen.