Jüdisches Leben in Berlin

"Antisemitismus hat viele Gesichter"

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Michael Behrendt

Foto: dpa

Berlins Verfassungsschutzchefin Claudia Schmid gibt einen Überblick über die alltägliche Feindseligkeit gegenüber Juden in der Hauptstadt. Dennoch gilt Berlin unter Neonazis als ungemütliches Pflaster – dank der konsequenten Arbeit der Ermittlungsbehörden und der Berliner Polizei.

Eine Szene, wie sie jeden Tag in Berlin vorkommen kann: Zwei Autoinsassen beschimpfen einen anderen Fahrer auf dem Kurfürstendamm. Die Täter bremsen ihr Opfer aus, bedrohen es. Bevor sie flüchten, schleudern sie einen brennenden Gegenstand, der glücklicherweise niemanden verletzt.

Zwischenfälle wie dieser vom vergangenen Wochenende sind für die Polizei nichts neues, dieser allerdings ist brisant – der Traktierte war ein Rabbiner, der mit mehreren Schülern in seinem Kleinbus unterwegs war. Einen Tag später meldet die Polizei einen Fahndungserfolg: Ein 18 Jahre alter Verdächtiger wurde als möglicher Täter identifiziert und festgenommen, später stellt sich ein 16-Jähriger bei der Polizei. Beide tragen arabischen Namen.

Claudia Schmid weiß um den alltäglichen Antisemitismus in der Hauptstadt. Sie ist die Chefin des Verfassungsschutzes, 190 Mitarbeiter gehören zu ihrem Nachrichtendienst, und alle haben irgendwie mit dem Phänomen des Antisemitismus zu tun. „Menschen, die Juden verachten, hassen und auch gewaltbereit sind, haben nicht alle einen kahl rasierten Kopf und tragen Springerstiefel. Der Antisemitismus hat viele Gesichter“, so Claudia Schmid. „Er wird manchmal propagiert in kleinen radikalen Hinterhofmoscheen, bei Treffen von Alt- und Neonazis, in den Liedstrophen radikaler Nazi-Rock-Bands.“ Kaum ein Deliktsfeld verfüge über ein so breit gefächertes Täterpotenzial.

Menschen in Israel, für die jeder Besuch in einem Café oder das Lösen eines Busfahrscheines das Risiko auf einen gewaltsamen Tod durch einen Selbstmordattentäter maximiert, dürften die Fallzahlen aus der Hauptstadt eher gering erscheinen. 212 Taten wurden in die Statistiken aufgenommen, der Großteil davon wurde der Sparte Propaganda-Delikt zugeschrieben. Das bedeutet, dass entweder Hakenkreuze geschmiert, Parolen gegrölt oder der Holocaust öffentlich dementiert wurde. Es gab neun Gewalttaten, sieben begangen von „Rechten“, zwei von Menschen mit Migrationshintergrund.

Auch politisch wird Antisemitismus genutzt. „Natürlich haben sich Parteien wie die NPD und DVU vorrangig anderes auf die Fahnen geschrieben. Sie greifen Ängste der Bürger wie den Verlust des Arbeitsplatzes auf und nutzen dies für Fremdenhass.“ Doch nur weil die rechtsextremistische Szene Antisemitismus nicht immer offen zeigt, so ist er doch Bestandteil jeder rechtsextremistischen Ideologie.

Aber es gibt auch andere Hetze, deren Protagonisten teilweise nicht belangbar sind, weil sie von arabischen Ländern aus operieren, in denen der Hass auf Israel, auf alle Juden, zur allgegenwärtigen Lebenseinstellung gehört und von Generation zu Generation weitergegeben wird. So sind in Berlin mehrere Fernsehender zu empfangen, die einen visuellen Feldzug gegen das Judentum führen. Zu sehen sind professionell erstellte Propaganda-Filme, in denen Statisten mit den optischen Merkmalen eines Rabbiners und seiner Frau ihren kleinen Sohn schächten, also ein Menschenopfer bringen.

In einer Kinderserie wird der Filmheld als kleine Maus dargestellt, die ihren harten Alltag in einer von Israel dominierten Welt meistern muss. „Diese Maus wird von israelischen Soldaten verhaftet und auch gefoltert“, so Claudia Schmid. „Am Ende der Serie stirbt sie dann.“ Was in kleinen Kindern vorgehe, die diese Filme sehen, sei klar. „Bereits in diesem zarten Alter wird der Hass in die Köpfe der Jungen und Mädchen gebracht. Kommentare von Sprechern heizen die Situation an. Es wird bewusst gespielt mit den Emotionen von Kindern, um sie einzutakten auf einen Krieg gegen Israel und die Juden in aller Welt.“ Technisch kann man den Empfang nicht verhindern, so sind auch hier Filme zu sehen, in denen bei schöner Musik Selbstmordattentäter verherrlicht werden. Einer der Sender ist ab morgen verboten.

Der hohe Kontrolldruck durch die Ermittlungsbehörden hat beispielsweise die Neonazi-Szene vorsichtiger werden lassen. So würden Rockbands der Neonazi-Szene heute im Vorfeld Anwälte konsultieren, die die Texte überprüfen, um eine Strafverfolgung zu verhindern. „Dennoch gibt es immer wieder unterschwellige Andeutungen und Botschaften“, berichtet Claudia Schmid.

Ein Beispiel dafür sei eine CD mit dem Titel „Zyklon – Sturm der Vergeltung“. Zwar würden die Produzenten angeben, mit dem Wort Zyklon das Naturereignis zu meinen, bei den Sicherheitsbehörden gehe man aber davon aus, dass dies eine Anspielung auf das Vernichtungsgas „Zyklon B“ darstellen soll. „Juristisch verwertbar ist solches Vorgehen oft leider nicht“, sagt Claudia Schmid.

Berlin gilt als ungemütliches Pflaster

Bei aller Bescheidenheit ist die Nachrichtendienstchefin aber auch etwas stolz auf die Ergebnisse der Behörde, die sich auch aus der intensiven Arbeit der Berliner Polizei ergeben. „Während nach dem Fall der Mauer Berlin noch als Hochburg der rechten Szene galt, so herrscht dort heute die Meinung vor, dass die Hauptstadt ein ungemütliches Pflaster für Neonazis und alle damit verbundenen Phänomene und Organisationen ist.“

So hat die Berliner Polizei bereits vor Jahren ein spezielles Fachkommissariat geschaffen, das sich ausschließlich mit politisch motivierten Straftaten beschäftigt. Beamte des Staatsschutzes und des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) wurden zusammengefügt, um den rechten Strukturen das Leben schwer zu machen – mit großem Erfolg. Kaum ein Rockkonzert verbotener Bands konnte stattfinden, weil die Beamten trotz größter Konspiration und Diskretion der Veranstalter stets von den Orten und Zeiten wussten.

„Wir haben diese Auftritte oft unmittelbar vor dem ersten Akkord gestoppt und im Anschluss verboten“, so ein Angehöriger der Einheit. „Das hat für einen großen Frust bei den oft von weit her angereisten Fans gesorgt.“ Selbst, als die Gruppen in Gasthöfen im brandenburgischem Umland auftreten wollten, waren die Ermittler entweder schon vor Ort oder kamen wenig später mit der Bereitschaftspolizei.

Trotz dieser Erfolge weiß Claudia Schmid, dass das Problem nicht aus der Welt ist. „So lange Menschen beweisen wollen, dass die Konzentrationslager des Dritten Reiches nicht die Kapazitäten für den Holocaust gehabt hätten, solange Unbekannte nachts Mahnmale beschmieren und solange Rabbiner angegriffen werden, ist der Staat gefordert.“ Dazu gehöre nicht nur ein schlauer Nachrichtendienst und eine wehrhafte Polizei, sondern auch ein Bildungsangebot, das junge Menschen die Rattenfänger des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit erkennen lasse.