Der Flughafen Tempelhof ist Geschichte. In der Nacht zu Freitag, um punkt 0 Uhr erloschen die Leuchtbuchstaben „Zentralflughafen“ ebenso wie die Befeuerung der Landebahnen und die Scheinwerfer, die das Vorfeld angestrahlt haben. Morgenpost Online dokumentiert die letzten sieben Stunden des Airports.
17.04 Uhr: Es regnet in Strömen und überall ist der Ausspruch „Der Himmel weint um den Flughafen Tempelhof“ auf dem Platz der Luftbrücken zu hören. In einer Stunde soll die Demonstration des Aktionsbündnisses „Be-4-Tempelhof.de“ beginnen. Kleine Menschentrauben sammeln sich unter Regenschirmen und zwei provisorisch aufgestellten Zeltdächern. Mitveranstalter Joachim Kiau baut schon einmal sein Podest aus zwei Holzpaletten auf und probt sich in rhetorischer Stimmungsmache: „Gemeinsam werden wir siegen“, ruft er.
17.20 Uhr: Schnulzige Musik dringt aus den Lautsprechern. Die ersten Protestler setzen ihre Unterschrift auf die vom Regen eingeweichten Listen für ein neues Volksbegehren. 20.000 Stimmen sind für einen Erfolg nötig, bisher sind es vielleicht 20. Kiau übt weiter, immer wieder unterbrochen von Problemen mit der Technik. Aber egal, es geht um die Sache. „Der Flughafen ist eine Herzensangelegenheit“, sagt eine Berlinerin, die seit 36 Jahren in Tempelhof lebt. Und sie fügt hinzu: „Der Verkehrslärm von der Straße ist viel schlimmer.“
17.45 Uhr: Die befürchteten Störer unter den Demonstranten sind bei den Pudelwetter zuhause geblieben. Die Polizei bleibt entspannt – und Kiau ist inzwischen komplett durchnässt.
18.10 Uhr: Jetzt ist auch Kiaus Manuskript vollkommen verlaufen. „Dann spreche ich eben frei“, sagt er und freut sich, dass trotz des schlechten Wetters sich einige hundert Menschen versammelt haben. Seine Mitstreiter teilen Trillerpfeifen an die Protestler aus. Der achtjährige Tim pfeift mit seiner Mutter um die Wette. „Ich lebe schon immer in Friedenau am Ende der Flugschneise“, sagt der Vater des Jungen. „Als Kind habe ich so gern den Fliegern nachgeschaut. Bei der Totenstille bald kann ich bestimmt nicht mehr richtig schlafen.“
18.21 Uhr: Ständig fällt das Mikro aus. Kiau verordnet eine Schweigeminute. Die Leute bleiben geduldig, einige zücken Kameras. Ein Pärchen aus Schöneweide hat sich besondere Mühe gegeben: Es trägt selbstbemalte T-Shirts, auf der Brust mit dem Schriftzug „Ja zum Flughafen Tempelhof“, auf dem Rücken „Nein zum BBI Schönefeld“.
Eigentlich sollte es eine Lichterkette geben, aber nur ganz vereinzelt flackern Grablichter; eine Kerze hier, eine Fackel dort. Der Regen und die Probleme mit der Technik rauben den Veranstaltern den letzten Nerv. Aber sie bleiben zäh, genauso wie die Teilnehmer. „Mich empört diese Selbstherrlichkeit der Politiker“, sagt ein 63-jähriger Sportflieger aus Treptow. „Njet, njet, njet – so wie die Politiker uns übergehen, das ist ja wie im Kommunismus.“
19.07 Uhr: Es wird kälter, aber den Demonstranten geht die Luft nicht aus. Mit aller Kraft blasen sie in ihre Tröten und Trillerpfeifen und drehen ihre Ratschen. Sie halten Plakate in die Höhe mit Aufschriften wie „Shame on you, Wowereit“ oder „Sind wir nicht alle ein bisschen Tempelhof?“ Jedenfalls gehören sie nicht zu den geladenen Gästen der Abschiedsfeier. Die Polizei bildet ein Spalier für gut gekleidete Menschen in Abendgarderobe – und mit stählernen Nerven. Denn sie müssen ein ganzes Stück weit unter den Buh-Rufen der Demonstranten in Richtung Haupteingang laufen. Aber richtig bekannte Gesichter bekommen die Demonstranten nicht zu sehen, denn die Prominenten finden durch eine Hintertür Einlass.
19.50 Uhr: Inzwischen sind alle Ehrengäste im Warmen. Dafür wippen draußen fröstelnde Polizisten auf ihren Fußspitzen, und Kiau wird nicht müde, lautstark an den kommenden Sonnabend zu erinnern; denn dann soll als eine Art stiller Protest, ein „Trauermarsch“ vom stillgelegten Flugplatz zum Roten Rathaus führen.
20.19 Uhr: Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit betritt – begleitet von Buhrufen – die Bühne in der Abflughalle, spricht von der starken Präsenz der Emotionen, die man zu respektieren habe. „Von Flughäfen“, sagt Wowereit, „sind auch mörderische Aktionen ausgegangen. Auch Tempelhof war Teil der Nazi-Diktatur. Der Flughafen hat aber auch die Lebensfähigkeit der Stadt garantiert. Daher auch ein großes Dankeschön an diejenigen, die der Stadt die Treue gehalten haben: die Alliierten.“ Erneut gibt es lautstarke Buhrufe, als er davon redet, dass nun der Flugbetrieb mitten in der Stadt der Vergangenheit angehört. Wowereit setzt erneut an: „Mit emotional traurigem Gefühl wird der Abend begangen, aber er ist auch Anlass für Optimismus.“ Wie gibt es ein vielstimmiges Buh.
20.27 Uhr: Flughafenchef Rainer Schwarz spricht vom „Tag des Abschieds, aber auch des Aufbruchs“ und stellt in einer nüchternen Rede die Geschichte Tempelhofs dar. Beifall gibt es für ihn nicht.
20.30 Uhr: Auf dem Flugfeld verlassen als letzte Flugzeuge die Junkers Ju-52 der Deutschen Lufthansa Berlin-Stiftung und der „Rosinenbomber“ DC 3 des Air Service Berlin den Airport. Beide Maschinen heben kurz vor Mitternacht von Tempelhof ab. Henriette Nitert steht traurig am Counter 20. Die Mitarbeiterin von Acciona Airport Service hat seit 1999 in Tempelhof gearbeitet. Die Crew wird zum 1. November ihren Dienst in Schönefeld antreten. „Das ist so, als würde man von der Feinkostabteilung im KaDeWe zur Kasse am Discounter geschickt werden.“
20.35 Uhr: Das Büfett ist eröffnet. Klaus Wowereit geht schnellen Schrittes, begleitet von Bodyguards zu Interviews mit Journalisten von Fernsehsendern und Zeitungen.
20.39 Uhr: Andrej Hermlin, engagierter Befürworter der Offenhaltung Tempelhofs, spielt mit seinem Swing Dance Orchester auf.
20.43 Uhr: Petra Köpcke aus Weißensee kommt aus dem Sicherheitsbereich in die Haupthalle. Sie ist mit dem letzten Sonderflug von Air Berlin, der die Nummer AB 1000 trägt, von Tegel nach Tempelhof angekommen. „Ich bin zwar aus dem Osten, aber ich bin sehr traurig, dass der Flughafen geschlossen wird.“
20.52 Uhr: Die letzte reguläre Linienmaschine, eine Dornier 328 der Cirrus Airlines, startet um 21.55 Uhr Richtung Mannheim. Am Counter 18 in der Haupthalle hat sich Friedrich Korsten angestellt. Der Berliner will Freunde in Mannheim besuchen. „Als ich im Sommer von der Schließung des Flughafens am 30. Oktober gehört habe, habe ich noch am gleichen Tag den Flug gebucht.“ Der 68-Jährige war Silvester 1967 im Schneetreiben das erste Mal in Berlin gelandet. Zu den letzten Passagieren, die für die letzte Linienmaschine eincheckten, gehörten Nadja Ruth und Wolfgang Hohensee. Der Rechtsanwalt und die Diplomkauffrau hatten sich erst gestern kennengelernt. Hohensee: „Eigentlich wollte ich heute Abend zusammen mit einem Freund nach Mannheim fliegen. Dem kam aber etwas dazwischen, und ich wollte den Flug schon verfallen lassen. Als Frau Ruth das hörte, sagte sie, das könne ich unmöglich tun, das sei ein historisches Ereignis.“
21.17 Uhr: Letzter Aufruf für die Passagiere des letzten Linienflugs von Tempelhof nach Mannheim.
21.24 Uhr: Die Zeitzeugin der Luftbrücke, Mercedes Wild, betritt die Bühne. Und berichtet, dass sie zur Zeit der Luftbrücke 1948 einen Brief an den Schokoladen-Onkel Gail Halvorsen schrieb und um einen Fallschirm mit Süßigkeiten bat.
22.58 Uhr: GAT-Bereich. Die Passagiere für die zwei letzten Abflüge von Tempelhof, checken ein. Der Wahl-Berliner Josef Schwarzenbacher ist für den „Rosinenbomber“ gebucht. Die DC 3 soll kurz vor Mitternacht abheben. Der Bauingenieur empfindet es als „besondere Ehre“, dabeisein zu dürfen. Der 49-Jährige ist zwar traurig über die „herzlose Entscheidung, diesen tollen Flugplatz zu schließen, doch die Freude über den Abschiedsflug ist ebenfalls da“, beschreibt er das Wechselbad der Gefühle.
23.17 Uhr: Im GAT-Bereich ist auch Bizair-Chef Andreas Peter und plaudert mit den anderen Piloten. „Wir haben den letzten Privatjet von Tempelhof nach Schönefeld geflogen. Das war um 21.30 Uhr. Jetzt ist die ganze Crew mit dem Bus zurückgekehrt, um die beiden letzten Flieger vom Rollfeld aus zu verabschieden. Morgen werden wir mit unseren 15 Mitarbeitern nach Schönefeld umziehen.“
23.41 Uhr: Die DC 3 und die Ju-52 rollen auf ihre Startpositionen – unter dem Pfeifkonzert von Mitarbeitern einer Flugschule, die die Zeremonie vom Vorfeld aus beobachten.
23.48 Uhr : Der Sänger Ricardo Marinello und mit ihm der Flughafen Tempelhof verabschieden die letzten Flieger mit „Time to say good-bye“.
23.52 Uhr: Georg Kohne (51) hätte auf diese Ehre gern verzichtet: Der Lufthansa-Flugkapitän ist dazu auserkoren, mit einer 70 Jahre alten Junkers Ju-52 von Tempelhof abzuheben. Neben ihm auf der zweiten Startbahn: Steffen Wardin (47) am Steuer des berühmten Rosinenbombers beim zeitgleichen Start. Es sind die letzten beiden Piloten, die Tempelhof per Flugzeug verlassen. Für Kohne ist es „der traurigste Tag in meiner Laufbahn“. Er nennt es noch immer „unglaublich“, dass nach 85 Jahren der Flughafen Tempelhof an diesem Freitag nur noch ein Kapitel der Luftfahrtgeschichte ist – wenn auch ein bedeutendes.
23.55 Uhr: Beide Maschinen heben zeitgleich von den Startbahnen ab. Als letzten Gruß an die Berliner wackelten die Piloten mit den Tragflächen.
0 Uhr: Die Leuchtbuchstaben „Zentralflughafen“ sind erloschen, ebenso die Befeuerung der Landebahnen und die Scheinwerfer, die das Vorfeld angestrahlt haben.