Am Bahnhof Friedrichstraße herrscht Gedränge. Auf Bahnsteig 1 wartet Dennis Färber auf seinen Zug nach Frankfurt (O.). An der dortigen Universität Viadrina studiert der 25-jährige Berliner seit vier Jahren Jura. Im Semesterticket sind Fahrten zwischen Berlin und der Oderstadt eingeschlossen.
Trotz dieses finanziell attraktiven Angebots ist Dennis auf die Deutsche Bahn nicht gut zu sprechen: Verspätungen bis zu 30 Minuten, verdreckte und überfüllte Waggons und unfreundliche Schaffner gehören für ihn zum leidigen Alltag im RE 1. „Eigentlich ist die Zugverbindung nach Frankfurt geradezu ideal, aber Qualität und Service stimmen oft nicht“, sagt er.
Länder sehen Änderungsbedarf
Mit seiner Unzufriedenheit über die Deutsche Bahn ist der Student Dennis nicht allein. Auch die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg sehen Änderungsbedarf. In ihrem Auftrag schrieb der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) den Betrieb des sogenannten Netzes Stadtbahn ab 2011/2012 europaweit jüngst in überraschend großem Umfang aus. Die Ausschreibung umfasst 16 Bahnstrecken, darunter auch die lukrativen, weil gut genutzten Regionalexpress-Linien RE 1 und RE 2, die Berlin mit Magdeburg, Frankfurt (O.), Eisenhüttenstadt, Stendal und Cottbus verbinden.
Die in der Vorwoche im „Europäischen Amtsblatt“ veröffentlichte Ausschreibung sorgt in der Branche für Furore, denn das Vergabeverfahren ist in mehrfacher Hinsicht brisant: Zum einen geht es um ein Riesengeschäft. Mit insgesamt 1,3 Milliarden Euro wird der Auftragswert der zu vergebenden Verkehrsleistung von jährlich 22 Millionen Zugkilometern beziffert, was fast zwei Dritteln der gesamten Leistung im Schienenpersonennahverkehr in Berlin und Brandenburg entspricht. „Eine Ausschreibung in dieser Größenordnung hat es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben“, sagt VBB-Geschäftsführer Hans-Werner Franz. Zum Vergleich: Bei der Neuausschreibung des Bremer S-Bahn-Netzes ging es um einen Umsatz von rund 500 Millionen Euro über elf Jahre.
Aufsehen erregte unter Fachleuten auch eine Klausel im Vergabeverfahren, nach der kein Bewerber alle Linien zugesprochen bekommen kann. Um dies zu gewährleisten, teilte der VBB die 16 Bahnlinien in vier Vergabelose auf, wobei die lukrativen Linien RE 1 und RE 2 zu zwei unterschiedlichen Losen gehören, für die sich ein Anbieter nicht gleichzeitig bewerben kann. Was VBB-Chef Franz als „Signal für mehr Wettbewerb“ bezeichnet, wertet die Deutsche Bahn als Affront. Denn damit ist klar: Die Bahn wird in jedem Fall eine der einträglichen Regionalexpress-Linien verlieren. Und ihre Vorherrschaft in der Berliner Region dürfte ins Wanken geraten.
Entsprechend heftig reagierte die Bahn. Noch am selben Tage, als die Details der Ausschreibung bekannt wurden, kündigte das Unternehmen rechtliche Schritte an. „Die bundesweit einmalige Loslimitierung ist eindeutig unzulässig, wir werden sie nicht hinnehmen“, sagte Peter Buchner von der Bahntochter DB Regio. Er kündigte eine Beschwerde bei der Vergabekammer an. Sollte diese erfolglos bleiben, werde die Bahn vor Gericht klagen. Buchner zufolge seien wegen der Ausschreibung mehr als 1000 Arbeitsplätze in der Region gefährdet.
Goldesel im Regionalverkehr
Für das noch immer auf einen Börsengang ausgerichtete Staatsunternehmen geht es um viel. „Die gut genutzten Regionalexpress-Linien RE 1 und RE 2 sind so etwas wie die Goldesel im Regionalverkehr“, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband Igeb. Obwohl die Bahn konkrete Geschäftszahlen unter Verschluss hält, gilt als sicher, dass beide Linien hochprofitabel sind. Doch die Bahn, kritisiert nicht nur Wieseke, reinvestiert ihre Gewinne größtenteils nicht ins Nahverkehrsnetz der Region. Im Gegenteil: Die Modernisierung der oft maroden Infrastruktur kommt nur schleppend voran, gleichzeitig zieht die Bahn aus Kostengründen Personal aus Zügen und von Bahnhöfen ab. Auch nimmt die Pünktlichkeit der Züge wegen der vielen sogenannten Langsamfahrstellen ab, der Service für Fahrgäste wird schlechter.
Der aktuelle Qualitätsbericht des VBB belegt dies mit Zahlen. So fuhren die Züge der DB Regio im Jahr 2007 nur zu 87,2 Prozent pünktlich. Im Jahr zuvor war die Pünktlichkeit mit 85,6 Prozent noch schlechter. Mitbewerber wie die zum französischen Veolia-Konzern gehörende Niederbarnimer Eisenbahn (NEB) oder die Ostdeutsche Eisenbahngesellschaft ODEG (je 50 Prozent Hamburger Hochbahn AG und Prignitzer Eisenbahngesellschaft PEG) kommen auf ihren – allerdings deutlich kürzeren – Strecken auf Pünktlichkeitsquoten von 98,6 Prozent (NEB) und 95,4 Prozent (ODEG). Auch bei den ausgefallenen Zugkilometern war DB Regio 2007 mit 1,34 Prozent deutlich schlechter als die private Konkurrenz (ODEG: 0,02 Prozent; PEG und NEB: 0,04 Prozent).
Fahrgastsprecher Wieseke will die Argumentation der Deutschen Bahn, die ihre schlechteren Werte mit dem hohen Marktanteil und der Komplexität ihres Netzes begründet, nicht akzeptieren. „Als die Bahn 1994 das Angebot Regionalexpress startete, hat sie tolle Standards gesetzt.“ Seither hätten diese konstant abgenommen. Vor allem weil die DB AG aus Gründen der Gewinnmaximierung nicht mehr genügend in Qualität investiere.
Minister will „100 Prozent Wettbewerb“
Bei Brandenburgs Verkehrsminister Reinhold Dellmann (SPD), in dessen Bundesland rund 72 Prozent der ausgeschriebenen Strecken liegen, führte diese Entwicklung offenbar ein Umdenken herbei. Sein Ziel: „100 Prozent Wettbewerb auf der Schiene erreichen“. Einer seiner Vorgänger, der SPD-Politiker Hartmut Meyer, hatte 2003 noch auf eine Ausschreibung verzichtet und stattdessen mit der Deutschen Bahn den sogenannten großen Bahn-Vertrag ausgehandelt, der dem Unternehmen bis 2012 ein Monopol in Berlin und Brandenburg sichert. Zudem soll es hohe Zuschüsse für jeden gefahrenen Kilometer geben. Experten sagen dem in seinen Details geheim gehaltenen Vertrag ein katastrophales Preis-Leistungs-Verhältnis nach.
Die Deutsche Bahn ist nun in einer Zwickmühle: Bietet sie ihre Leistungen künftig deutlich billiger als bisher an, würde sie indirekt den Subventionsverdacht belegen. Bleibt sie aber auf dem jetzigen Preisniveau, könnte sie in der aktuellen Ausschreibung unter Umständen gänzlich leer ausgehen. Damit würde die Bahn ihre Vormachtstellung in der Region und eine wichtige Ertragsquelle verlieren.
Bis zum 13. März nächsten Jahres haben die Verkehrsunternehmen nun Zeit, ihre Angebote zu erarbeiten. Bis Ende 2009 sollen die Strecken neu vergeben sein.