Yassin* gibt sich alle Mühe. Er beißt sich auf die Unterlippe, seine Hand umklammert den Bleistift. Dann versucht er, die beiden Punkte auf dem Papier mit einer Linie zu verbinden. Er kritzelt nach rechts, dann nach links. Er schafft es einfach nicht. Doch nach den Sommerferien soll Yassin zur Schule.
Dietrich Delekat, Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in Kreuzberg und damit zuständig für die Schuluntersuchungen, atmet tief ein. Dann schreibt er die Punktzahl "0" neben die krakelige Zeichnung von Yassin. "Weißt du denn, wo du wohnst?", fragt er den Jungen. Yassin schüttelt den Kopf. Delekat vermerkt wieder etwas auf einem Zettel. "Und was ist das?", fragt er den Jungen dann und zeigt auf ein Bild mit einem Stapel Bücher. Yassin schaut einen Moment hin, dann zuckt er mit den Schultern und schweigt. Dietrich Delekat schreibt noch einmal eine "0".
"Wahrscheinlich hat Yassin noch nicht oft einen Stift in der Hand gehabt", sagt Delekat, "seine Deutschkenntnisse sind nur rudimentär". In der Kita war er nur die vergangenen zehn Monate, er hat sieben Geschwister und zu Hause wird Arabisch gesprochen. Seine Eltern haben keinen Schulabschluss, sind arbeitslos. "Ein klassischer Fall."
Rückstellungen praktisch unmöglich
Gern würde Dietrich Delekat dafür sorgen, dass Yassin noch ein Jahr gezielt gefördert wird, bevor er in die Schule kommt. Doch Rückstellungen sind seit dem neuen Schulgesetz praktisch unmöglich geworden. "Alle werden eingeschult. Egal ob sie die Voraussetzungen mitbringen oder nicht."
In Berlin kommen in diesem Jahr rund 27.000 Kinder zur Schule. Etwa 2500 von ihnen werden an ihrem ersten Schultag erst fünfeinhalb Jahre alt sein. Andere sind vielleicht schon sechs, haben aber trotzdem noch Defizite. "Im Interesse der Kinder ist das nicht", sagt Sascha Steuer, schulpolitischer Sprecher der CDU. Vor sieben Jahren wurden noch 8,2 Prozent der Erstklässler zurückgestellt. "Bei der Entwicklung, die wir haben, müssten es heute wahrscheinlich sogar eher mehr sein", vermutet Steuer. Doch erst für das nächste Schuljahr will die Bildungsverwaltung die Befreiung von der Schulbesuchspflicht wieder etwas einfacher machen.
Bis dahin müssen Dietrich Delekat und seine Kollegen alle Kinder für schulfähig erklären. 2400 Kreuzberger Kinder waren in diesem Jahr zur Untersuchung im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. Delekat hat Größe und Gewicht erfasst, das Herz abgehört und die Zähne angeschaut. Er hat die Kinder malen lassen, mit ihnen gesprochen und sie auf einem Bein hopsen lassen. Die Ergebnisse sind erschreckend: Jedes dritte Kreuzberger Kind ist auffällig und müsste speziell gefördert werden. "Viele sprechen nur schlecht, andere können sich nicht konzentrieren", sagt Delekat.
Neun von 25 möglichen Punkten hat Yassin erreicht. "Auffällig", notiert der Kinderarzt in der Akte. "Freust du dich denn auf die Schule?", fragt Dietrich Delekat. Yassin nickt. "Das ist schön", sagt der Arzt. "Ich wünsche dir alles Gute." Die Mutter verabschiedet sich lächelnd. Delekat hat ihr viel erklärt, doch verstehen konnte sie nicht viel.
Vor der Tür wartet schon Karim*. Seine Mutter schiebt ihn vorwärts. Die Familie kommt aus Ghana. Karim war im Kindergarten, spricht gut Deutsch. Mühelos malt er ein Kreuz auf ein Blatt Papier. Dietrich Delekat ist zufrieden. Dann blättert er in Karims Vorsorgeheft. "Warum waren Sie zum letzten Mal bei der Vorsorgeuntersuchung, als Karim sechs Monate alt war?", fragt er die Mutter. "Ich weiß nicht", sagt die Frau, "man muss da immer so lange warten."
Darauf sagt Dietrich Delekat nichts. Er wendet er sich wieder dem Jungen zu. "Sag mal: Zippelzack." "Zippelzack", sagt Karim leise, aber deutlich. "Prima", sagt Dietrich Delekat, Karim strahlt ihn an. Er sieht stolz aus. Nur Formen zuordnen kann er nicht so gut. "Insgesamt hat er seine Sache aber ganz gut gemacht", sagt Dietrich Delekat. Man sieht ihm an, dass er sich darüber freut.
Große Probleme in Kreuzberg
Delekat beobachtet und dokumentiert seit Jahren die Entwicklung der Kreuzberger Kinder, unzählige Vorträge hat er zu dem Thema gehalten. Hier ist das Problem besonders groß. Nicht nur, weil es viele Kinder mit Migrationshintergrund gibt, sondern auch, weil es so große Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern gibt. Delekat hat herausgefunden, dass insgesamt 53 Prozent der Kreuzberger der Unterschicht - also der bildungsfernen - angehören, 22 Prozent der Mittelschicht und nur 24 Prozent der Oberschicht mit hoher Bildung.
"Sieht man sich aber einmal nur die Deutschen an, die in Kreuzberg wohnen, so bekommt man ein ganz anderes Bild", sagt er. Denn von den Deutschen in Kreuzberg gehören 56 Prozent zur gebildeten Oberschicht und nur 18 Prozent zur Unterschicht. Bei den Türken hingegen zählen 77 Prozent zur Unterschicht und nur 5 Prozent zur Oberschicht. "Ich sehe das bei den Untersuchungen sofort", sagt Delekat. "da gibt es die Kinder, die von ihren Eltern gefördert werden. Die machen das alles Zackzack. Nach zehn Minuten sind sie hier raus."
Der Unterschied zu den nicht geförderten Kindern sei riesig. "Sie brauchen für die gleichen Übungen manchmal bis zu einer Stunde." In Kreuzberg sind das vor allem die Kinder mit Migrationshintergrund. "Sie kommen aus einer bildungsfernen Schicht, sehen zu viel fern, machen Computerspiele und gehen erst spät in die Kita", sagt Delekat.
Die großen Defizite der Kinder fallen häufig erst bei der Schuluntersuchung auf. Denn im Gegensatz zu allen anderen Untersuchungen ist diese Pflicht. "Das Ergebnis sehe ich dann hier erst kurz vor der Schule." Doch dann ist es für eine gezielte Förderung meist zu spät.
Wie bei Mario*, Delekats nächstem Fall an diesem Tag. Der blonde Junge sagt seinen Namen. Dann schweigt er. "Sprich mir doch einmal nach", bittet ihn Delekat, "ich bin sicher, dass du das kannst." Er nimmt sich Zeit, fast eine Stunde. Doch Mario macht nicht mit. Er schaut im Raum umher, lehnt sich an seine Mutter. Den Arzt ignoriert er. "Wie soll das in der Schule werden, wenn er sich so verweigert?", fragt Delekat die Mutter. Sie zieht die Schultern hoch. "Ich weiß es nicht", sagt sie dann, "ich mache mir auch große Sorgen."
Zwar mache Mario Fortschritte in der Kita, das hat die Einrichtung bescheinigt. Aber für die Schule ist er emotional noch nicht weit genug. Trotzdem druckt Delekat die Mitteilung für die Schule aus. "Ich sage der Schule, sie soll Mario fördern", sagt der Kinderarzt. Er weiß, dass die Schule das kaum leisten kann, aber es ist das einzige, was er in diesem Moment tun kann.
Danach sind andere dran. Lehrer, Schulleiter. So wie Inge Hirschmann. Sie ist Schulleiterin der Heinrich-Zille-Grundschule am Lausitzer Platz. Jeden Tag sieht sie in ihrer Schule Kinder, die da eigentlich noch nicht hingehören. "Sie können sich nicht konzentrieren und stellen keine Fragen", sagt sie. Auch mit der Motorik hapere es. "Diesen Kindern wird ein Schulsystem aufgepfropft, dem sie noch nicht gewachsen sind." Doch daneben sitzen Kinder, die so sind, wie man sich Erstklässler vorstellt: Sie sprechen fließend Deutsch, können sich konzentrieren und mit dem Stift umgehen. "Die Schere geht innerhalb einer Klasse weit auseinander", sagt Hirschmann. "Und viele deutsche Eltern ziehen mit ihren Kindern dann weg."
Dietrich Delekat tippt für heute die letzten Werte in seinen Computer. Zwei Kinder sind an diesem Tag nicht zur Untersuchung erschienen. "Einmal lade ich sie noch ein", sagt er, "wenn sie dann wieder nicht kommen, muss ich die Schule verständigen."
*Alle Kindernamen geändert