Berlin. Hinter uns Lungen, vor uns Haut. Dahinter ein ganzes Regal voller Schädelknochen. Wo wir sind? Im Medizinhistorischen Museum der Charité. Dieser Spaziergang wird etwas anders, gewissermaßen einer durch den menschlichen Körper.
Mit der Dermatologin und Ärztin für Geschlechtskrankheiten, Dr. med. Yael Adler, stehen wir hier zwischen den Reihen voller menschlicher Präparate. Die 45-Jährige hat Ende der 90er-Jahre einen Teil ihres Praktischen Jahrs hier an der Klinik verbracht. Heute hat sie eine Privatpraxis in Grunewald. Sie kommt gerne mit ihren Söhnen Noah und Liam ins Museum und erklärt ihnen den Körper und was mit ihm so alles passieren kann. Heute sind wir es, denen sie ein paar dieser Dinge erklärt.
Die zierliche Ärztin legt gleich los und zeigt auf die Organe in Formalin, aufgereiht hinter Glasvitrinen. Sie beschreibt die irgendwie kranken und mutierten Organe in einem so selbstverständlichen Tonfall, als wären es Exponate in der Alten Nationalgalerie. Tatsächlich sagt Adler nun: „Für mich ist das hier so ergreifend, fesselnd und bewegend wie Kunst anschauen.“
Seit 21 Jahren arbeitet sie in diesem Beruf, ziemlich lange, wohl auch deshalb klingt nun das komplexeste Krankheitsbild aus ihrem Mund plötzlich ganz simpel. Und doch vergisst, wer kein Mediziner ist, sofort wieder, was genau nun noch mal Neurofibromatose war oder ein Melanom.
Es ist interessant, was sie erzählt. Gerade wenn man dabei so nah mit dem Blick an allem kleben kann. Gerade an einem Knoten unter der Haut, der durch Syphilis entstanden sein soll, wie Adler erklärt. Und irgendwie gruselt es einen ja auch. Wird einem so doch (wieder mal) bewusst, wie fragil ein Menschenleben ist. Auch weil man seinem Körper so viel Böses antun kann. Tätowierungen („der Feind eines jeden Hautarztes“), Zigaretten, (zu viel) direkte Sonneneinstrahlung, schlechte Ernährung (Zucker, Pestizide, Weichmacher).
Man kann mit ihr über alles sprechen
Ekelt sie sich denn gar nicht mehr? „Mir ist nichts Körperliches fremd, alles ist menschlich!“, sagt sie vehement. Vielmehr sei sie fasziniert von allem, immer noch. So wie damals, erinnert sie sich, als sie in den Büchern des Großvaters, der auch Dermatologe war, stöberte: „Die Zeichnungen der Krankheitsbilder waren gruselig und faszinierend zugleich.“
Sie spricht begeistert von vielem, was einem selbst eher peinlich wäre. Genau darüber hat sie nun ein Buch geschrieben. „Darüber spricht man nicht“, heißt es ganz passend. Auf über 360 Seiten klärt sie über Tabuthemen auf, auch jene zwischen Mann und Frau. Adler selbst gibt zu, dass auch sie gewisse Peinthemen hat. Gerade deshalb könne sie wohl so emphatisch über all das schreiben, sagt sie.
Sie zum Beispiel erinnert sich noch gut an eine Liebesreise, als sie jung war. Während sie unter Verstopfungen litt, weil sie nicht auf Klo gehen konnte, habe er selbstbewusst überall seine Duftmarken hinterlassen. „Erst später habe ich erfahren, dass es da nicht nur mir so geht.“ Außerdem habe sie das gesellschaftliche Missverständnis erkannt: Man glaubt, Frauen müssten immer gut riechen und elfengleich wirken.
Die Haut sei immerhin der Spiegel der Seele
Wie kommt es bloß, dass so häufig Scham für die natürlichsten Sachen verspürt wird? „Tabus sind gesellschaftlich, religiös, kulturell sowie psychologisch vermittelt.“ Unterschiedlich in Kulturen, innerhalb von Familien, von Mensch zu Mensch verschieden. Abhängig vom Geschlecht und Altersphasen. Und sie seien auch eine Frage des Typs. Eins jedenfalls ist klar: Sie belasten.
Schon im Kleinen kennt man das. Ein sichtbarer Pickel reicht manchmal aus, um sich irgendwie stigmatisiert zu fühlen, weil man mit ihm gewissermaßen nicht der Norm entspricht. „Hier werden ganz archaische Dinge bedient“, erklärt Adler, „denn im Steinzeitstamm stellte jemand mit einem äußerlichen Makel eine mögliche Krankheitsgefahr bei der Fortpflanzung oder ein Infektionsrisiko dar.“ Und das Urbedürfnis ist es nun mal, nicht aus dem Stamm verstoßen zu werden.
Natürlich gibt es heute keinen Stamm mehr, und verstoßen wird man auch nicht. Aber was ist, wenn Leute denken, man sei gestresst, würde sich nicht gut ernähren oder sei unhygienisch aufgrund der schlechten Haut? Die – übrigens das größte Organ des Menschen – sei immerhin der Spiegel der Seele.
Das Buch von Adler räumt insofern mit all den Sorgen auf, als es aufklärt, Tipps gibt und vor allem auffordert, über Dinge zu reden. Es soll befreien, sagt sie. „Zu mehr Körper- und Selbstliebe führen – mündig und unabhängig machen.“ Wer ein grundlegendes Verständnis für den eigenen Körper hat, ihn gut kennt, kann eben auch besser über ihn reden. Und wer über alles reden kann, kann auch Krankheiten früh genug erkennen und damit seine Lebensqualität steigern. So einfach.
"Das Herrschaftswissen der Mediziner nervt mich"
Während ihres Studiums habe Adler immer wieder festgestellt, erzählt sie, dass Menschen nicht wüssten, was sie eigentlich dringend wissen müssten. „Das Herrschaftswissen der Mediziner nervt mich – es sollte viel mehr ein Grundrecht für alle sein!“, fordert sie. Ihr Buch könnte einen Teil dazu beitragen. Einerseits wissenschaftlich höchst fundiert beschrieben und „interdisziplinär auf dem neuesten Stand“, wie sie selbst sagt. Andererseits in einer Sprache verfasst, dass die Tatsachen gewissermaßen etwas ironisiert wirken. Zumindest aber klingen sie so locker und deshalb eingängig, damit jeder irgendwie erreicht wird.
Mittlerweile sind wir eine Etage weiter nach oben spaziert. Je schamloser – im besten Sinne – Adler spricht, desto entspannter wird man selbst und hört vollkommen unbeeinflusst von Blicken Fremder zu. Gerade erklärt sie, dass es für fast alles eine Lösung gebe, weshalb man offen über seine Probleme reden solle. Übrigens auch über trockene Scheiden. Huch. Man merkt an sich selbst, dass man so eine Direktheit in der Öffentlichkeit nicht so richtig gewohnt ist. Nur bei ihr wundert es einen ja eigentlich nicht.
Sie weiß, wie sie vor einer Kamera agieren muss
Immerhin schreibt Adler über Blähungen, Geschlechtskrankheiten, Leiden des Anus, Schuppen, Depressionen und so vieles mehr. Schon das Inhaltsverzeichnis des Buchs lässt beim stillen Lesen sicher den einen oder anderen erröten. Dabei könnte man wetten, dass zumindest eines der Themen darin jeden schon mal betroffen hat.
Man meint zu spüren, wie zwei, drei Besucher irritiert zu uns schauen, während sie ganz selbstverständlich weiter über dieses Problem in der Postmenopause spricht. „Häufig erzählen diese Frauen niemandem davon, weil sie glauben, das ist ein unabwendbares Schicksal das man hinnehmen muss.“ Unter so was leide dann die Psyche, auch weil das Sexleben nur noch eingeschränkt funktioniere. So etwas müsse meist erst von ihr erfragt werden. In diesem Fall rät Adler dann: Gleitgel oder Lasertherapie von Vulva und Vagina, um die Schleimhaut wieder zu regenerieren.
Zwischendrin werden die Fotos der Ärztin gemacht. Sie weiß, wie sie vor einer Kamera agieren muss, tritt bereits seit einigen Jahren immer wieder als Expertin in zahlreichen Medien auf. Gewissermaßen ist sie also eine Person der Öffentlichkeit. Und doch meint man zu erkennen, dass sich die Frau, die einen mädchenhaften und wachen Ausdruck im Gesicht hat, wohler fühlt, wenn sie in ihrer Funktion als Ärztin Menschen aufklären, ihnen helfen kann.
Eine Diagnose erfordert genaue Ermittlungsarbeit
Für sie ist ihr Beruf ein sehr sinnlicher, da sie alle Sinne einsetzt. „Es ist eine Art Detektivspiel.“ Auch weil sie sich als ganzheitliche Ärztin sieht. Zu Symptomen, die sichtbar auf der Haut sind, gehören eben auch das Blut, der Darm, die Psyche und Nerven, Hormone und die Ernährung. Viele Hautkrankheiten seien internistisch angesiedelt, sagt Adler. Neulich habe sie bei einem Patienten mit chronischem Juckreiz per Bluttest eine Art Leukämie festgestellt.
Sie will alles über den Körper herausfinden. „Und immer wieder muss ich feststellen, dass es einfach nicht möglich ist.“ Statt Romanen liest sie in ihrer Freizeit Sachbücher. Zuletzt auf der griechischen Insel Kos ein dickes Buch über Mitochondrien. Da lacht die Familie schon mal über sie, wenn sie mit einem dicken Schinken Biochemie am Strand liegt.
Weil sie Angst vor Krankheiten hat, ist Adler übrigens Ärztin geworden. Sie sei zwar nicht zwanghaft oder radikal, aber durchaus eine Gesundheitsfanatikerin. „Ich würde meinem Körper jedenfalls nicht noch mehr Risiken antun, als er eh schon in sich trägt, weil es eben in der Natur der Sache liegt.“ Das heißt dann für sie: regelmäßig Sport, gesund ernähren, niemals rauchen, nur wenig Alkohol. Sogar Ohrlöcher empfindet sie als „Verletzung der Integrität meines Körpers“. Und wer einen auf Dinkelkeks macht, solle sich nicht tätowieren lassen – das sei bigott. Denn die krebserregenden Substanzen, Allergene, Schwermetalle in der Farbe würden in die Organe übergehen und nie abgebaut werden. Trotz all der Risiken, betont sie, müsse man natürlich noch lebensfähig bleiben und nicht „umweltwahnhaft“ werden.
Gesundes Selbstbewusstsein und ein bewusster Umgang mit sich selbst
Adlers Credo: „Man sollte nicht so viel an sich herummanipulieren, wenn es nicht sein muss, sondern dankbar sein, dass man gesund und funktionsfähig ist.“ Damit kritisiert sie auch den Machbarkeitswahn. „Viele glauben, puppenhafte Schönheit wäre durch Cremes, Spritzen und Operationen käuflich, doch Lebensenergie und Vitalität herstellen kann man durch Beautyeingriffe nicht und die Psyche damit meist auch nicht reparieren.“
Was trägt eigentlich Social Media zu unserem Selbstbild bei? „Dort erzählt man einander bildliche Lügen, um sich selbst groß zu machen oder andere klein.“ Überall Filter, schmeichelhafte Winkel und Perspektiven. Hier kann man die Wahrheit schön oder zumindest anders mogeln.
Genau das funktioniert und verstärkt den Weichzeichner gegenüber anderen, während man sich selbst äußerst detailliert und kritisch sieht. Der Schlüssel demnach: ein gesundes Selbstbewusstsein und ein bewusster Umgang mit sich selbst.
Ein riesiges Tabu sei übrigens auch das Alter. Wieso es so viele nicht mögen? „Weil es an das Ende erinnert, dabei fühlen wir uns herrlich und einzigartig. Dass unser Leben eines Tages ein Ende haben soll, empfinden wir als riesige Kränkung“, erklärt Adler. Daher auch der Boom all der Anti-Aging-Produkte mit allem, was dazugehört. Stichwort Botox.
Botox in die Zornesfalte als Antidepressivum
Auch Adler praktiziert kleinere Eingriffe zum Zwecke der Schönheit, wenn den Patienten nichts anderes helfe. Sie selbst hat sich mal die Zornesfalte spritzen lassen. „Das sah zwar ganz gut aus, aber meine Mimik war mir damit zu sehr eingeschränkt, weil ich gar nicht mehr grimmig schauen konnte.“ Genau das sei übrigens für viele ein Heilmittel. Psychiater würden Botox in die Zornesfalte als Antidepressivum einsetzen. Das muss sie erklären. Die Mimik beeinflusse unsere Emotionen, sagt sie nun. Und diese könne man manipulieren, da das Hirn jede mimische Regung wahrnehme. „Wer also nicht mehr grimmig schauen kann, meldet seinem Gehirn: alles okay, kein Grund zur Traurigkeit.“
Was man aus dem Gespräch mit Adler mitnimmt: Das oberste Gebot ist es wohl zu sprechen – miteinander, über sich selbst und übereinander. Verständnis! Für sich selbst und füreinander. Und Milde walten zu lassen! Mit sich und miteinander. Außerdem seinen Körper kennenlernen. „Betrachten, riechen, schmecken, fühlen Sie ihn“, rät die Ärztin noch. Und zum Schluss: sich ruhig mal mit dem Handspiegel untenrum angucken.
Der Ritt durch den menschlichen Körper und angebliche Tabus nimmt ein Ende. Mit Adlers Buch und dem eigenen Körper geht er weiter. Man wünscht sich so eine kompetente Ärztin dauerhaft neben sich, die einem die Sorgen nehmen kann. So würde vieles nur noch halb so schlimm klingen.