Berlin. Seit dem Mauerfall war nur ein Monat vergangen, da wurde dem Bürgerrechtler Andreas Rost klar: Der größte Erfolg seines damals noch jungen Lebens birgt auch den Moment das Scheiterns in sich. Das war im Dezember 1989 in Bonn, als Oskar Lafontaine ihn anschrie.
In der Erinnerung von Rost war das so: Er, ein renitenter 23-jähriger Student der Fotografie aus Leipzig, hatte gerade mit den anderen Bürgerrechtlern eine Diktatur gestürzt. Er saß als studentischer Vertreter am Runden Tisch, sollte Vorsitzender der Jusos in Sachsen werden.
Der Weg hin zur Deutschen Einheit war da längst betreten. „Uns war durchaus bewusst, dass es hier nicht um die Wiedereröffnung einer Schwimmhalle ging“, sagt Rost heute. Er wollte, dass die DDR nicht einfach der BRD angeschlossen wird. Er wollte, dass die Friedliche Revolution einen Niederschlag in der Verfassung findet. Rost wollte wie so viele Bürgerrechtler mitbestimmen, was aus der DDR werden sollte.
„Lafontaine bekam einen hysterischen Anfall“
Helmut Kohl und die CDU hatten damals die Übermacht. Das wusste auch Oskar Lafontaine, der noch kurz zuvor von „nationaler Besoffenheit“ gesprochen und vor einer schnellen Wiedervereinigung gewarnt hatte. Im Dezember in Bonn, so erzählt es Rost, traf die werdende ostdeutsche Sozialdemokratie mit der West-SPD aufeinander. Schnell sei ihm klar geworden: Der Osten hat hier nichts zu sagen. Eine Verfassungsdiskussion? „Lafontaine bekam einen hysterischen Anfall“, erinnert sich Rost.
Damals rollte bereits Kohls Zehn-Punkte-Programm zur Wiedervereinigung, viel zu laut forderten die Menschen in der DDR die Wiedervereinigung, viel zu oft riefen sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur „Wir sind das Volk!“ Sie riefen „Wir sind ein Volk!“
Ein Land in der Schwebe, zwischen Zusammenbruch und Aufbruch
Die Montagsdemonstrationen, das wird heute oft vergessen, gingen auch nach dem Mauerfall weiter. So auch am 11. Dezember 1989, heute vor genau 30 Jahren in Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Dresden. „Bei den Demonstrationen wird der Ruf nach Einheit lauter“, schrieb die Berliner Morgenpost damals. Aber auch von Gegendemonstranten, die „DDR, DDR“ riefen, offene Grenzen forderten, aber keine Wiedervereinigung. Und auch das schrieb die Morgenpost vor 30 Jahren: „Beobachter bezeichneten die Situation als aggressiv.“
Andreas Rost ist heute freischaffender Fotograf. Er hat an einem Buch des Leipziger Spector Verlags über die Zeit nach dem Mauerfall mitgearbeitet. Es heißt „Das Jahr 1990 freilegen“. Die radikalen Umbrüche in der DDR, so die Theorie der Autoren, seien wie ein „blinder Fleck“ im kollektiven Gedächtnis.
Fotografien von Montagsdemonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen oder der Eröffnung eines Sexshops in der ostdeutschen Provinz werden in dem Buch mit Aussagen von West-Politikern, mit Protokollen aus Sitzungen des Runden Tisches und Zeitungsausschnitten montiert. Dabei entsteht die Collage eines Landes in der Schwebe. Zwischen zwei Systemen. Und irgendwo zwischen Zusammenbruch und Aufbruch.
Bei der Arbeit am Buch stellte Andreas Rost fest: Die Friedliche Revolution war gar nicht so friedlich. Nach dem Mauerfall trafen immer wieder Gegner und Befürworter der Wiedervereinigung aufeinander. Auf den Fotos tauchen Reichsflaggen auf, Bilder von Jugendlichen mit „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, die DDR-Flaggen anzünden. Von Schlägereien nach Parteitagen. Warteschlangen vor dem Arbeitsamt in Leipzig. Beim Blättern durch das Buch scheint es, als sei vieles, was in Ostdeutschland heute als schwieriges Erbe der Wiedervereinigung zutage tritt, schon in diesem seltsam aus der Geschichte entrückten Jahr 1990 angelegt gewesen.
Die CDU besetzt früh das Thema Wiedervereinigung
Andreas Rost, der Bürgerrechtler und Fotograf sieht das heute so: „Der Mauerfall hat uns auf dem falschen Fuß erwischt.“ In der Bürgerrechtsbewegung habe man keinerlei Fantasie gehabt, wie eine Marktwirtschaft zu organisieren wäre. Er selbst habe viel zu spät verstanden, dass die Idee von zwei marktwirtschaftlich organisierten Deutschlanden nebeneinander völlig irreal war. Und dann sei man schlicht zu beschäftigt gewesen. „Wir waren so beschäftigt mit den Runden Tischen, hatten keine Zeit für konzeptionelle Arbeit oder gar Wahlkampf.“
Den haben andere übernommen. Ganz vorne: die CDU. Früh fasste man dort den Plan, das Thema Wiedervereinigung zu besetzen. Aber waren es nicht die DDR-Bürger selbst, die den Ruf nach Wiedervereinigung in die Straßen trugen? Andreas Rost kann sich zwar ganz genau an den Moment erinnern, als er zum ersten Mal „Wir sind das Volk“ hörte. Aber wann wurde aus „das“ „ein“?
Die Stasi vermerkte nicht, ab wann nach einem Staat gerufen wurde
Die Aufzeichnungen von Zeitzeugen gehen auseinander. Der 20. November, wie sich der Historiker Guido Knopp einmal festlegte? Der 23. Oktober 1989, wie der Autor Reiner Tetzner in seinem Buch „Leipziger Ring / Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten“ vermerkte?
Wer könnte es besser wissen als die Stasi? Hielten ihre inoffiziellen und offiziellen Mitarbeiter doch penibel jeden Spruch, jedes Transparent in ihren Berichten fest.
Termin in der Zentrale der Stasi-Unterlagen-Behörde unweit des Alexanderplatzes. Bereits vor über zehn Jahren wurde hier eine Recherche nach dem ersten Vermerk des berühmten Rufes nach der Einheit angestrengt. Die Suche umfasst die Monate kurz vor und kurz nach dem Mauerfall. Das Ergebnis füllt einen ganzen Leitz-Ordner, 328 Seiten Stasi-Schreibmaschinenschrift. Vermerke zu Rufen nach Wiedervereinigung findet man kaum.
Wie Bürgerrechtler den Wahlspruch der CDU schrieben
Der allererste ist die Abschrift eines Appells der Leipziger Bürgerrechtsbewegung. Sie stammt vom 9. Oktober 1989 und ist unterschrieben mit Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Menschenrechte und Arbeitsgruppe Umweltschutz. Dort steht: „Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden!“
Es klingt wie eine Ironie der Geschichte. Zumindest in den Archiven der Stasi taucht der Ruf, der später zum Symbol für den Einheitswillen der DDR-Bürger werden sollte, bei jenen auf, denen die Wiedervereinigung später viel zu schnell kam.
Nur war die Bedeutung eine völlig andere: Die Leipziger Bürgerrechtler sahen damals die entscheidende Demonstration auf sich zukommen. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens saß ihnen im Hinterkopf. Verstärkung der Volkspolizei und Schlagstöcke standen bereit.
Die Friedliche Revolution durfte auf keinen Fall in Gewalt kippen. „Wir haben Angst um uns selbst“, steht in dem Appell, „Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns in Uniform gegenübersteht. Der Satz „Wir sind ein Volk“, er war an die Volkspolizisten gerichtet. Auch ihr seid das Volk, lasst uns in Frieden demonstrieren.
Den Unterton eines Rufes nach Einheit hat auch das Ministerium für Staatssicherheit daraus nicht vernommen. In den folgenden Berichten taucht er nicht mehr auf. Immer wieder notierten die Stasi-Bezirksverwaltungen in Dresden, Leipzig oder Erfurt Forderungen nach Presse- und Reisefreiheit, Rufe nach Schulreformen oder „SED – so ein Schnee.“ Erst am 23. November geht ein Telegramm über Demonstrationen im sächsischen Großenhain heraus. „Dringlichkeit: Flugzeug“, steht im Bericht. Und: „Vereinzelt wurden Transparente an der Spitze des Zuges mit der Aufschrift ‘Für die Wiedervereinigung Deutschlands’ mitgeführt.“
Westpolitik begreift schnell die Bedeutung des Slogans
Wann sich die Montagsdemonstranten den Ruf „Wir sind ein Volk“ zu eigen machten, ist aus den Stasi-Unterlagen nicht zu entnehmen. Aber es gibt eine Fotografie vom 13. November in Leipzig: Ein Plakat mit der Aufschrift, angestellt am Neuen Rathaus. Bei Filmaufnahmen vom 18. Dezember, wieder aus Leipzig, ist der Ruf dann deutlich zu hören. Im Bild verbrennt eine Gruppe Demonstranten die DDR-Fahne.
Fest steht: Die westdeutsche Politik hat schnell begriffen, welchen Sog dieser Spruch entwickeln kann. Bereits zwei Tage nach dem Mauerfall schrieb die „Bild“-Zeitung: „’Wir sind das Volk’, rufen sie heute. ‘Wir sind ein Volk’ rufen sie morgen!“
Bereits seit November 1989 waren Zehntausende, bald Hunderttausende von Postern und Aufklebern in der DDR im Umlauf. Sie kamen von der CDU. Trapezförmig waren sie, Schwarz-Rot-Gold mit blauer Aufschrift: „Wir sind ein Volk“. Ab Januar dann wurde die DDR flächendeckend plakatiert. Am 18. März gewinnt die „Allianz für Deutschland“, der Ost-Verbündete der CDU, die Wahlen.
Für Andreas Rost ist die Schnelligkeit, mit der der Westen das Ruder in der DDR übernahm, eine der großen Enttäuschungen der Friedlichen Revolution. Aus der Politik zog er sich zurück. Was darauf folgte, war der „geilste Sommer meines Lebens“, wie er heute sagt. Er gehörte zu den Besetzern des Berliner Kulturzentrums „Tacheles“. Und auch das sagt er heute: „Eine Regierung zu stürzen, das hat schon großen Spaß gemacht.“ Und am Ende hätten sie ja erreicht, was sie am dringendsten wollten: demokratische Wahlen.
Kürzlich reiste Rost für ein Foto-Projekt nach Brasilia. Er sagt, als er am Flughafen stand, habe er auf seinen bundesdeutschen Pass geblickt und gedacht: Das ist das Beste, was mir je passieren konnte.
Das Buch „Das Jahr 1990 freilegen“ ist im Oktober 2019 im Verlag Spector Books erschienen. Es hat 592 Seiten und kostet 32 Euro.