Im Tränenpalast wird ein Dokument aus der Pressekonferenz vom 9. November gezeigt.

Der seltsam bürokratische, umständliche Auftritt Günter Schabowskis bei der Pressekonferenz am 9. November 1989 gehört seit vielen Jahren zum Kernbestand der Erinnerungen an den Mauerfall. Mehr als eine Stunde lang hatte das SED-Politbüromitglied über die Beschlüsse des Ministerrates referiert – es „plätscherte so dahin“, hieß es jovial in der „Tagesschau“ desselben Tages. Dann kam die Flüchtlingswelle und die neue Reiseregelung zur Sprache.

„Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“

Der italienische Journalist Riccardo Ehrman von der Nachrichtenagentur Ansa wollte von Schabowski wissen, ob die wenige Tage zuvor vorgestellte neue Reiseregelung nicht ein Fehler gewesen sei. Woraufhin Schabowski in seinen Unterlagen herumkramte und vorlas, dass „Privatreisen nach dem Ausland … ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden“ könnten. Auf die Nachfrage des Berliner Journalisten Peter Brinkmann, ab wann das denn gelte: „Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Die westlichen Medien berichteten, wenige Stunden später mussten sich die DDR-Grenzer dem Ansturm der Bürger beugen.

Ein Zettel aus den Unterlagen Schabowskis, auf dem er sich den vorgesehenen Verlauf der Pressekonferenz in Stichpunkten notiert hatte, war lange verschollen – von seiner Existenz wusste man nur durch eine Fotokopie, die der Historiker Hans-Hermann Hertle davon gemacht hatte.

Notizen, die Geschichte schrieben: der Zettel, mit dem sich SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf die Pressekonferenz vorbereitete.
Notizen, die Geschichte schrieben: der Zettel, mit dem sich SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf die Pressekonferenz vorbereitete. © picture alliance / Ulrich Baumgarten | Ulrich Baumgarten

Im Jahr 2015 wurde dem Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für 25.000 Euro zum Kauf angeboten – und nachdem man das Dokument auf seine Echtheit überprüft hatte, entschied man sich zum Erwerb.

Schriftstück ist nach Berlin zurückgekehrt

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls ist das Schriftstück nun vorübergehend nach Berlin zurückgekehrt und wird im Tränenpalast ausgestellt. „Dieser Notizzettel von Günter Schabowski und die Pressekonferenz am 9. November 1989 haben dazu beigetragen, dass die Mauer fiel. Wir freuen uns, dieses einmalige Dokument erstmals in Berlin zum 30-jährigen Jubiläum präsentieren zu können“, sagt der Präsident des Hauses der Geschichte, Hans Walter Hütter.

Dem Zettel ist die Dramaturgie zu entnehmen, die Schabowski für den Abend vorgesehen hatte. Von Anfang an hatte er geplant, auf das Thema der Reiseregelungen erst „kurz vor Schluss“ zu sprechen zu kommen – „Ende der Debatte“ ist unten auf der Seite vermerkt. Wichtig war ihm auch, dass er kein „Politbüro-Papier“ vorstellte, sondern eine „Entscheidung MiRa“, eine Entscheidung des Ministerrates der DDR.

Schabowski machte einen Fehler

Doch hier machte er einen Fehler. In der Entscheidung des Ministerrates war zwar davon die Rede, die neuen Reiseregelungen sollten „ab sofort“ in Kraft treten, allerdings sollte der Beschluss erst am kommenden Tag, dem 10. November, über die staatliche Nachrichtenagentur ADN kommuniziert werden. Durch Schabowskis Zutun, entstanden durch situative Überforderung, war das nicht mehr nötig.

Geschichte verdichtet sich in Gegenständen und kann an ihnen erzählt werden – allerdings erzählen Gegenstände auch immer nur einen Teil der Geschichte. Die Mauer wurde nicht durch einen Flüchtigkeitsfehler eines SED-Politbüromitglieds zu Fall gebracht, auch wenn diese Erzählung einen gewissen Charme hat. Sie fiel durch den Mut und die Ausdauer der Widerstandsbewegung im sozialistischen deutschen Teilstaat. Dennoch werfen Schabowskis Notizen ein Schlaglicht auf ein autoritäres Regime, das von den sich überschlagenden Entwicklungen heillos überfordert war – und sich nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn verzettelt hatte.

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