Wolfgang Ischinger

Das „gemeinsame Haus Europa“ liegt in weiter Ferne

| Lesedauer: 6 Minuten
Wolfgang Ischinger
Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.

Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.

Foto: Georg Hochmuth / picture alliance / GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

30 Jahre nach dem Ende des Eisernen Vorhangs ist die Einheit, die für Deutschland gilt, in Europa noch bei Weitem nicht erreicht.

Drei Jahrzehnte ist es nun her: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und damit die Trennlinie, die Deutschland und Europa über mehrere Jahrzehnte in zwei Hälften riss. Dass der sich anschließende Prozess der Wiedervereinigung so friedlich verlief, wurde zurecht als Wunder bezeichnet.

Noch am 3. Oktober 1990, in seiner Ansprache beim Staatsakt zum „Tag der deutschen Einheit“, aber lenkte Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Blick über Deutschland hinaus auf ein noch ausstehendes Einigungsprojekt – das gesamteuropäische. Eindringlich warnte er davor, dass die nun überwundene Trennlinie weiter nach Osten wandert: „Die Westgrenze der Sowjetunion darf nicht zur Ostgrenze Europas werden“, so seine Worte.

Die Trennlinie zu vermeiden, ist uns nicht gelungen

Dreißig Jahre später müssen wir ernüchtert feststellen: Die Trennlinie zu vermeiden, ist uns nicht gelungen. Die Herstellung der Einheit, die für Deutschland gilt, haben wir für Europa noch bei Weitem nicht erreicht. Die Verwirklichung eines geeinten Europas in Frieden und Freiheit – „a Europe whole, free and at peace“ – wie es die US-Präsidenten George H. W. Bush und Bill Clinton kurz nach der Wende als Ziel formulierten, steht weiterhin aus.

Ja, seit 1989 ist Beträchtliches passiert: Europäische Union und Nato haben viele der östlichen Staaten Europas integriert und damit wesentlich dazu beigetragen, in diesen Ländern Frieden und Demokratie zu verankern und Prosperität zu fördern. Deutschland, plötzlich umgeben nur von Freunden, hat davon besonders profitiert. Eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, eine dauerhafte Friedensordnung, ist aber nicht entstanden.

Instabilität prägt die europäische Nachbarschaft

Denn Russland und die osteuropäischen Staaten, für die es auf absehbare Sicht keine Beitrittsperspektiven gibt, haben ihren Platz darin bislang nicht gefunden, trotz aller Bemühungen im Rahmen der OSZE. Die Zone der Ungewissheit aber fordert ihren Tribut: In der Ukraine herrscht seit fünf Jahren Krieg. Nicht nur Georgien kämpft mit einem „eingefrorenen“ Konflikt. Und auch auf dem Balkan sind Krisen ungelöst geblieben. Kurz: Instabilität prägt die europäische Nachbarschaft – ein „ring of fire“ statt des „ring of well-governed states“, den die EU sich 2003 wünschte.

Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Entscheidung der EU, Nordmazedonien und Albanien doch keine Beitrittsverhandlungen anzubieten, besonders fatal. Die politischen Kosten deuten sich unmittelbar an: Nordmazedonien droht in eine politische Krise zu stürzen – eine längerfristige Destabilisierung ist nicht ausgeschlossen. Auch an die anderen Westbalkanstaaten ist das Signal verheerend: Auf die EU ist kein Verlass. Selbst wer schwierige Reformen auf sich nimmt, bleibt Europäer zweiter Klasse. Die Lücken, die die EU damit reißt, werden andere clever zu füllen wissen – allen voran Russland, China und die Türkei. Dass dies zu mehr Demokratie, Frieden und Stabilität in Europas unmittelbarer Nachbarschaft führt, darf bezweifelt werden.

Und damit ist auch das größte Hindernis auf dem Weg zu einer tragfähigen euro-atlantischen Friedensordnung benannt: der schlechte Stand der Beziehungen zu Russland. Es ist besonders bedauernswert, dass die Vision nie Wirklichkeit wurde, die der damalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow skizziert hatte: die Vision eines „gemeinsamen Hauses Europa“, das allen, auch Russland, ein Zuhause anbietet. Im Gegenteil: Mit der Annexion der Krim und Moskaus Intervention in der Ostukraine sind solche Visionen in noch weitere Ferne gerückt. An die Stelle vertrauensvoller Partnerschaft sind westliche Sanktionen und russische militärische Drohgebärden getreten.

Nicht mit dem desolaten Zustand der Beziehungen zu Russland abfinden

Abfinden dürfen wir uns mit diesem desolaten Zustand der Beziehungen zu Russland aber nicht, denn es kann immer noch schlimmer kommen: Mit dem jüngst aufgekündigten INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme rücken statt weiterer Abrüstung wieder Fragen nuklearer Bewaffnung auf unsere sicherheitspolitische Tagesordnung – eine brandgefährliche Entwicklung für den Frieden in Europa.

Im Grunde sind wir im Umgang mit Russland auf die schon 1967 von Pierre Harmel entworfene Strategie zurückgeworfen: So viel Dialog wie möglich, so viel Verteidigung wie nötig. Damit war auch die Basis für die spätere deutsche Ostpolitik geschaffen. Im Sinne des jüngsten Vorstoßes des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sollten wir beharrlich dafür werben, dass die Tür zum Hause Europa für Moskau geöffnet bleibt. Wenn Moskau bereit wäre, sich wieder dem Westen zuzuwenden, würde deutlich werden, dass wir Europäer für Russland sehr verlässliche Partner sein wollen und auch sein könnten.

Aber will Russland eine solche Partnerschaft heute? Das würde unter anderem voraussetzen, dass Vertrauen wieder aufgebaut wird, statt der Furcht vor russischen Übergriffen, wie sie seit Jahren bei unseren östlichen Partnern herrscht. Deshalb wird ein Angebot an Russland zu mehr Dialog und mehr Zusammenarbeit mit einigen unserer EU Partner nur dann und erst dann zu machen sein, wenn unsere Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit glaubwürdig gesichert ist. In dieser Hinsicht gibt es einen erheblichen Nachholbedarf: Nicht etwa nur wegen des Zwei-Prozent-Ziels der Nato, sondern um unser ureigenes Interesse an Frieden und Sicherheit in ganz Europa nachdrücklich vertreten zu können!

Deutschland trägt eine besondere, aus unserer Geschichte erwachsene Mitverantwortung dafür, die europäische Handlungsfähigkeit zu stärken. In diesem Sinne ist die Erinnerung an die Wiedervereinigung auch ein Appell: Für das, was 1989 in Deutschland begann und unvollendet blieb, nämlich die Überwindung der Teilung Europas und das Ende von Konfrontation, gilt es weiter zu kämpfen. Am Ende wird Frieden in Freiheit in Deutschland nur von Dauer sein, wenn er in eine gesamteuropäische Friedensarchitektur eingebettet ist.

Mehr zum Thema "30 Jahre Mauerfall":

Johannes Ludewig: „Die Treuhand war der richtige Weg“

Gorbatschow: „Wir leben gemeinsam in einem Mehrfamilienhaus“

Fotovergleich: Berlin mit und ohne Mauer

Interaktive Anwendung: Wissen Sie noch, wo die Mauer Berlin teilte?