30 Jahre Mauerfall

Franziska Giffey: „Ich dachte, wir sind schon weiter“

| Lesedauer: 12 Minuten
So feiert Berlin 30 Jahre Mauerfall

So feiert Berlin 30 Jahre Mauerfall

Eine Nacht voller Emotionen. Am 09. November fiel die Berliner Mauer. 30 Jahre später feiern die Menschen am Brandenburger Tor. Erleben Sie die schönsten Bilder.

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30 Jahre nach dem Mauerfall wird wieder viel über die Unterschiede zwischen Ost und West diskutiert. Ein Gespräch mit Franziska Giffey.

Berlin. Sie ist die Ostdeutsche im Bundeskabinett: Franziska Giffey (41), ihr Büro liegt an der Glinkastraße in Berlin-Mitte. Gut gelaunt empfängt die Bundesfamilienministerin zum Gespräch in ihrem Büro. Ein Gespräch über Ost- und Westdeutsche, Befindlichkeiten und AfD-Wahlergebnisse.

Berliner Morgenpost: Als die Mauer fiel, lebte Ihre Familie in der Nähe von Frankfurt (Oder), Sie waren elf Jahre alt. Haben Sie noch Erinnerung an die Zeit, an den Tag?

Franziska Giffey: Ich erinnere mich noch, dass das eine sehr aufgeregte Zeit war. Meine Eltern haben beide voll gearbeitet, und normalerweise wurde abends erst gemeinsam gegessen und nach dem Abendessen der Fernseher angemacht. In dieser Zeit aber wurde der Fernseher sofort eingeschaltet, kaum waren sie zu Hause. Es ist ja so viel auf einmal passiert, was man nie für möglich gehalten hätte. Meine Eltern haben das alles sehr genau verfolgt.

Waren Ihre Eltern in der SED?

Nein. Meine Eltern sind mit der Partei sehr auf Distanz geblieben.

Was geschah am 9. November?

Es war ja ein Donnerstag. Und am Wochenende darauf – damals hatten wir ja samstags noch Schule – kam nur die Hälfte der Schüler zum Unterricht, alle anderen waren in Berlin. Mein Vater harkte Laub, unser Nachbar kam vorbei und meinte: „Was harkste denn Laub, wir müssen nach Berlin, da sind sie alle.“ (lacht)

Und sind Sie gefahren?

Erst zwei Wochen später. Es war ja nicht sicher, ob alles so bleibt. Meine Mutter hatte große Sorge, dass die Grenzen wieder geschlossen werden und wir nicht mehr zurück können. Als wir nach Berlin fuhren, sollten die Trabis und Wartburgs am Flughafen Schönefeld geparkt werden, wir fuhren von dort mit dem BVG-Bus zum U-Bahnhof Rudow in Neukölln, dann mit der U-Bahn zum Hermannplatz, wo wir das Begrüßungsgeld abholten und - wie so viele andere - zu Karstadt einkaufen gingen. Da war es unfassbar voll, die Elektronikabteilung fast leer gekauft, aber ich habe noch ein kleines Radio von meinem ersten Westgeld erstanden.

Und später sind Sie Neuköllner Bezirksbürgermeisterin geworden…

Ich hätte mir damals nicht träumen lassen, dass ich mal Bürgermeisterin in dem Bezirk werden würde, in dem ich mit elf Jahren als Ostkind zum ersten Mal westdeutschen Boden betreten habe. (lacht)

Als Sie Familienministerin geworden sind, war eine der Beschreibungen, die Ihnen zugewiesen wurde, dass Sie die Ostdeutsche im Bundeskabinett sind. Fühlen Sie sich denn als Ostdeutsche?

Ich sage gerne: Ich habe eine ostdeutsche Anfangsbiografie, ich verleugne da auch nichts. Ich dachte aber eigentlich, wir sind schon weiter. Ich habe doch als Berlinerin 16 Jahre lang in einem West-Berliner Bezirk gearbeitet, mit Menschen aus über 150 Nationen. Wir hätten uns da gar keine Ost-West-Debatte leisten können. Die Ost-Herkunft war wirklich nicht relevant. Dass ich mit dem Eintritt ins Kabinett wieder zur Ostdeutschen wurde, das hat mich anfangs etwas irritiert.

Aber es gibt bis heute nur wenige Ostdeutsche in Führungspositionen – neben der Kanzlerin.

Das stimmt. Ich habe schnell gemerkt, wie wichtig es für viele Menschen aus dem Osten ist, dass es mich als Ostdeutsche im Kabinett gibt. Und wie wenig Ostdeutsche in den Führungsebenen des Bundes zu finden sind. Sei es bei den Staatssekretären, Abteilungsleitern oder auf den anderen Leitungsebenen. Und in der Privatwirtschaft sieht es nicht anders aus – in den Chefetagen der großen deutschen Unternehmen kommt nur ein sehr geringer Teil aus Ostdeutschland. Da verstehe ich schon, dass viele Ostdeutsche sich nicht ausreichend repräsentiert fühlen.

Interaktive Anwendung: Wissen Sie noch, wo die Mauer Berlin teilte?

Wir haben schon öfter das Mauerfall-Jubiläum gefeiert, zum zehnten oder 25. Jahrestag. Nun, zu 30 Jahren Mauerfall rückt die Frage nach der Identität, gerade von Ostdeutschen, in den Vordergrund. Warum?

Ich wünsche mir, dass wir eine gesamtdeutsche Identität entwickeln – und gleichzeitig jeder seine regionale Zugehörigkeit behält. Die regionalen Unterschiede von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern sind etwas Schönes und Wertvolles. Deshalb hoffe ich sehr, dass wir uns als Deutsche und Europäer fühlen und nicht immer das Trennende zwischen Ost und West betonen. Aber leider sind wir noch nicht überall so weit. In den ersten Jahren, als im Osten die Betriebe abgewickelt wurden und alles sich veränderte, da musste das Leben ganz neu organisiert werden. Da war für Reflexion über die eigene Identität gar keine Zeit. Jetzt, 30 Jahre nach dem Mauerfall, ist eher der Moment, sich auch mal zurücklehnen und zu fragen: Wo stehen wir? Wo stehe ich? Wohin soll es gehen?

Was ist nach 1989 falsch gelaufen?

Mich stört immer, wenn Menschen heute sagen, dass hätte man so oder anders machen müssen. Es gab dafür keine Blaupause, und es gab nur einen Versuch. Es war für alle ein absoluter Ausnahmezustand – und dieser war getragen von großen Umwälzungen, von Unsicherheit, von großem Zeitdruck, aber auch von einer unglaublichen Aufbruchstimmung. Die meisten Ostdeutschen wollten doch so schnell wie möglich die D-Mark. Erinnern Sie sich nur an den Spruch: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“

Anders gefragt: Was hätte man besser machen können?

Man hätte mehr darauf schauen können, auch im Osten Gutes zu erhalten und weiterzuführen. Dass so Vieles abgetan oder ignoriert wurde, haben viele Ostdeutsche als Kränkung empfunden. Die Polikliniken wurden abgewickelt – und später als „Medizinische Versorgungszentren“ oder Ärztezentren wieder aufgebaut. In der DDR gab es eine gute Kinderbetreuung in Krippe und Kindergarten und für alle Kinder ein Hortangebot in der Grundschule. Dass alle einen Platz bekamen, war selbstverständlich. Heute diskutieren wir über mangelnde Fachkräfte, Kitaplatz-Wartelisten und wie man es schaffen kann, dass Eltern von Grundschulkindern Familie und Beruf miteinander vereinbaren können.

Wurde den Ostdeutschen Unrecht getan?

Ich mag das Jammern nicht. Natürlich gab es Dinge, die besser hätten laufen können. Aber wir sollten den Blick lieber auf Dankbarkeit, Stolz und Zuversicht richten. Jeder, der im Osten den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung erlebt hat, hat Brüche erlebt, hat das Davor und das Danach in seiner Biografie. Aber viele haben diese Zeit sehr gut gemeistert. Auch das Land hat sich verändert – die Infrastruktur im Osten ist inzwischen teilweise besser als in manchen Regionen im Westen. Heute muss es um die Stärkung der strukturschwachen Regionen in Ost wie West gehen – um gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Land.

30 Jahre nach dem Mauerfall gewinnt die AfD im Osten viele Stimmen bei den Wahlen, mit ausländerfeindlichen, teils rechtsextremen Positionen. Macht Ihnen das Sorgen?

Sehr große Sorgen. Überall dort, wo Menschen abwandern, weil sie für sich und ihre Familie keine Zukunft sehen, und sich die, die da bleiben, abgehängt fühlen, legt die AfD zu. Ich verstehe zwar, dass Menschen unzufrieden sind, wenn der Bus zu selten kommt, die Arztpraxis schließt oder es kein ausreichendes Internet gibt. Aber es geht uns doch viel besser als vor 30 Jahren. Der Lebensstandard, die Infrastruktur sind doch so viel besser geworden. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie viele Dinge in der DDR eben nicht alltäglich waren und ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen sich klar machen, was wir gewonnen haben – vor allem die individuelle Freiheit. Aber, das ist mir auch wichtig: Die AfD ist kein Thema allein der Ostdeutschen. Überall, wo es strukturschwache Regionen gibt und gleichzeitig eine Angst vor großen Veränderungen herrscht, ist die AfD stark.

Wie erklären Sie sich die Ängste der Menschen?

Angst, so irrational sie auch in manchen Fällen sein mag, ist leider ein großes Thema. Die Ostdeutschen haben schon einmal den Umbruch eines Systems erlebt, der auch mit Verlusten verbunden war. Nun stehen wieder Veränderungen an – durch die Zuwanderung, die Digitalisierung der Arbeitswelt, den demografischen Wandel. Ich habe das als Bürgermeisterin und auch jetzt als Ministerin oft im Gespräch mit den Bürgern erlebt. Wenn ich gefragt habe: „Sagen Sie, wie geht es Ihnen denn?“, dann kam als Antwort: „Mir geht es eigentlich ganz gut, aber ich weiß ja nicht, ob es so bleibt.“ Angst ist ein ganz starkes Motiv für eine Wahlentscheidung. Menschen wollen Sicherheit und Stabilität. Die AfD gibt einfache Antworten – und befriedigt scheinbar diese Ängste.

Was tun?

Wir müssen dafür sorgen, dass wir, die politische Verantwortung tragen, für Sicherheit und Stabilität stehen, dass wir den Menschen Zuversicht vermitteln. Dazu gehört für mich: hingehen, zuhören, anpacken. Und die politischen Schwerpunkte auf das ausrichten, was vor Ort gebraucht wird. Repräsentanz ist wichtig: Wir brauchen mehr Ostdeutsche in den Führungsfunktionen, damit sich diese Sichtweisen und Erfahrungen auch in der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Justiz auf oberster Ebene wiederfinden und Interessen des Ostens mitvertreten werden.

Da Ihnen der Doktortitel nicht entzogen wurde, können Sie nun ja als ostdeutsche Ministerin weitermachen…

Mir ist wichtig, dass ich Bundesministerin für ganz Deutschland bin.

Muss nicht besser regiert werden?

Wenn ich mir ansehe, was die Bundesregierung in anderthalb Jahren alles geschafft hat, dann ist das richtig viel. Zwei Drittel der Vorhaben sind angepackt oder erfüllt. Vieles davon geht auf das Konto der SPD. Es macht einen positiven Unterschied, dass die SPD mitregiert. Ich finde, das sollte ganz objektiv anerkannt werden. Und ansonsten bin ich von einem überzeugt: Wer teilt, gewinnt. Und wer zusammenarbeitet, erreicht mehr.

Das mit dem Nicht-Streiten bekommt weder die Bundesregierung – Stichwort Grundrente – noch SPD oder CDU hin…

Die gemeinsame Sacharbeit muss im Mittelpunkt stehen. Dass das in der Koalition gut klappen kann, haben Arbeitsminister Heil, Gesundheitsminister Spahn und ich zum Beispiel bei der Konzertierten Aktion Pflege gezeigt.

Wie verbringen Sie denn den 9. November? Feiern Sie?

Für mich ist das ein besonderer Tag. Ich werde an der Gedenkfeier an der Bernauer Straße und abends am Brandenburger Tor sein. Die deutsche Einheit ist für mich der Glücksfall des letzten Jahrhunderts.

Und wo stehen wir in 30 Jahren?

Hoffentlich in einem modernen Deutschland, das die großen Fragen des sozialen Zusammenhalts gut meistert und die Demokratie verteidigt. Und hoffentlich spielt die Herkunft nicht mehr so eine große Rolle wie heute. Als Bezirksbürgermeisterin habe ich ja über 3000 Menschen eingebürgert. Mein Leitmotiv dabei war immer: „Wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern wer du sein willst.“ Darum geht es.

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