Berlin. Die nach 1989 Geborenen kennen Mauer und Wiedervereinigung nur aus Erzählungen. Was wissen sie? Was bedeutet Ost und West für sie?

Junge Menschen kennen den Mauerfall und die DDR nur aus der Schule und von Erzählungen. Was bedeuten Ost und West für die Generationen, die nach dem Mauerfall geboren wurden? Wir haben bei Jannik (10), Emmylou und Helen (15), Mirja (20), Lukas (25) und Manuel (30) nachgefragt.

Jannik Barth (10): „Meine Mutter hat mir von den Westpaketen erzählt“

Jannik Barth (10) geht in die 5. Klasse und wohnt in Wilmersdorf.
Jannik Barth (10) geht in die 5. Klasse und wohnt in Wilmersdorf. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

"Wir reden schon manchmal über die Mauer, in der Schule und auch zuhause. In der Schule schauen wir jeden Morgen die Kindernachrichtensendung Logo und reden auch darüber. Da war die Mauer und die DDR schon Thema. Aber der Zweite Weltkrieg interessiert uns eigentlich noch mehr.

Vom Mauerfall weiß ich, dass die Mauer eigentlich wegen eines Fehlers am 9. November geöffnet wurde. Jemand hatte etwas falsch verstanden. Sie sollte eigentlich erst später aufgemacht werden. Aber dann standen so viele Menschen an den Grenzübergängen, dass sie die Mauer öffnen mussten. Da passt das Sprichwort: Die Menge macht das Gift! Wobei das Gift da nur eine Metapher ist.

Ich denke, ich weiß auch deswegen mehr über das Thema, weil mein Vater aus dem Westen stammt und meine Mutter aus dem Osten. Sie haben die Teilung noch ein bisschen mitbekommen, als Kinder, und auch die Familien sind sehr unterschiedlich. Von der DDR weiß ich, dass man dort seine Meinung nicht frei sagen durfte. Meine Mutter hat mir auch von den Westpaketen erzählt. Ihre Tanten aus dem Westen schickten Sachen, die es im Osten nicht gab.

In der DDR war der Schulunterricht anders und nicht alle Abschlüsse galten hinterher noch im Westen. Ich denke, die Unterschiede zwischen West und Ost gibt es heute nicht mehr. Natürlich sind die Menschen unterschiedlich, gerade in Berlin. Aber wir sind trotzdem alle Menschen. Wenn alle gleich wären, könnte man den einen vom anderen nicht unterscheiden. Die Unterschiede sind es doch, die uns zu Menschen machen!“

Fotovergleich: Berlin mit und ohne Mauer

Emmylou und Helen, Zwillinge (15): „Filme wie ,Good Bye, Lenin’ zeigen uns ein bisschen, was damals war“

Die Zwillinge Emmylou und Helen sind 15 Jahre alt.
Die Zwillinge Emmylou und Helen sind 15 Jahre alt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

„Der Fall der Mauer und Ost-West-Geschichten Berlins sind für uns Dinge, die wir aus der Schule und Erzählungen unserer Oma und Eltern kennen. Wer von unseren Freunden Ost-Background hat, wissen wir gar nicht. Das ist gar kein Thema.

Eine Idee, wie es in der DDR zuging, bekommen wir auf total unterschiedliche Weise. Im Unterricht haben wir beispielsweise mit zwölf Jahren Referate zu Mauer und Flucht gemacht. Dann gab es Besuche im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, wo uns ein ehemaliger Häftling geführt hat. Filme wie „Good Bye, Lenin“ und „Das Leben der Anderen“ haben uns ein bisschen gezeigt, was damals war. Zudem hören wir unheimlich viel von unseren Eltern, die West-Berliner sind. Da geht es um Club-Nächte in den Technoläden, die gleich nach Mauerfall überall entstanden, und Begegnungen mit Ost-Berlinern, die man in den Supermärkten von Kreuzberg traf.

Zuhause stehen Fotobände mit Bildern aus Ost-Berlin mit leeren Straßen, riesigen Betonplätzen. Ein bisschen von dieser Zeit spüren wir, wenn wir zu den Flohmärkten auf Boxhagener Platz und RAW-Gelände gehen. Manche Häuser dort sehen aus wie aus den Fotobänden bei uns zuhause.“

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    Mirja Celina Hansen (20): „Wenn ich am Potsdamer Platz vor den Mauerresten stehe, spüre ich eine gewisse Atmosphäre“

    Mirja Celine Hansen ist 20 Jahre alt.
    Mirja Celine Hansen ist 20 Jahre alt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    „Der Mauerfall ist für mich ein unmittelbares Stück Berliner Geschichte. Obwohl ich selber den Fall der Mauer in Berlin nicht miterlebt habe, kann ich mir gut vorstellen, wie sich das Stück Freiheit damals nach der Wende angefühlt haben muss. Jedes Mal, wenn ich an der East Side Gallery, dem ehemaligen Mauerverlauf, entlang gehe oder am Potsdamer Platz vor den Mauerresten stehe, spüre ich eine gewisse Atmosphäre.

    Außerdem hat der Mauerfall in Berlin einen enormen stilistischen Einfluss auf die Entwicklung in der Kultur- und Modeszene ausgeübt, wie wir es heute kennen. Berlin hat nach der Öffnung der Grenzen eine so große Vielfalt gewonnen und es haben sich zahlreiche Möglichkeiten für uns eröffnet, die wir heute in Berlin leben. Dennoch merke ich immer noch gewisse Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen der Stadt. Zum Beispiel architektonische Unterschiede: die schönen Altbauten in Charlottenburg, im Kontrast dazu das Szeneviertel in Friedrichshain und die Plattenbauten in Marzahn. Genau das macht aber eben Berlin aus.

    Bekannte von mir aus Prenzlauer Berg haben den Mauerfall selbst miterlebt und erzählen ab und zu darüber. Sie waren jung und hatten nicht viel Geld, dennoch erinnern sie sich gerne. Es war ein Neubeginn für sie, erzählen sie, und dass damals alle sehr offen waren und sich gegenseitig geholfen haben. Sie beschreiben es als Glücksmomente und sind sehr stolz darauf. Ich höre mir solche Geschichten total gerne an. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass sie nicht in Vergessenheit geraten. Der Mauerfall gehört zu unserer Geschichte.“

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    Lukas (25): „In Berlin habe ich gemerkt, wie aktuell Teilung und Wende noch immer sind“

    Lukas U. (25) ist Student. Er stammt aus Karlsruhe und lebt in Neukölln.
    Lukas U. (25) ist Student. Er stammt aus Karlsruhe und lebt in Neukölln. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    „In meiner Kindheit und Jugend in Bayern gab es die Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschland außerhalb des Geschichtsunterrichts nicht. Erst als ich mit siebzehn zum ersten mal in Thüringen war und wir über die Dörfer gefahren sind, ist mir aufgefallen, wie real die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland überhaupt sind, selbst wenn es nur etwas so Offensichtliches wie das Straßenbild ist. Bis dahin dachte ich im Grunde, dass es in ganz Deutschland so aussieht wie in der bayerischen Kleinstadt meiner Kindheit.

    Die deutsche Teilung schien mir immer in ferner Vergangenheit – als ein mit der Wiedervereinigung abgeschlossener Teil der deutschen Geschichte. Dass der Prozess der Wiedervereinigung aber noch in vollem Gange und mit Problemen verbunden ist, wurde in der Schule nie thematisiert. Mit meinem Umzug nach Berlin wurde mir schnell klar, dass ich eine sehr westdeutsche Perspektive erfahren habe.

    Im Berliner Alltag ist die ostdeutsche Geschichte viel greifbarer. Dadurch habe ich gemerkt, wie aktuell Teilung und Wende noch immer sind, und dass der geschichtliche „Glücksfall“ nicht für alle auch ein persönlicher Glücksfall war. Bei aller Freude über der Mauerfall sollte anerkannt werden, dass in der Folge viele Fehler gemacht wurden und viele Hoffnungen der Proteste enttäuscht wurden.

    Heute denke ich, dass die Nichtunterscheidung von Ost und West in meiner Jugend nicht Zeichen der erfolgreichen Wiedervereinigung war, sondern das Ergebnis der Ausblendung ostdeutscher Geschichte.“

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    Manuel (30): „Die fehlende Aufarbeitung hängt eng mit dem Erstarken des Rechtspopulismus zusammen“

    Manuel (30) aus Schöneberg wurde 1989 in Ost-Berlin geboren. Er ist IT-Berater.
    Manuel (30) aus Schöneberg wurde 1989 in Ost-Berlin geboren. Er ist IT-Berater. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    „Es ist schön, dass heute die Aufmerksamkeit wieder auf die deutsche Teilung und Wiedervereinigung gelenkt wird. Nur wird leider oft vergessen, dass der Mauerfall an sich nur ein kleiner Teil der Wiedervereinigung ist. Es gibt sicher ein gesellschaftliches Bewusstsein über den Alltag in der DDR, es gibt viel Literatur und viele Filme, die das Thema behandeln. Aber die Wendejahre ‘91, ‘92 und ihre Auswirkungen werden oft ausgeblendet.

    Was in den 90er-Jahren passiert ist, kann man als kollektive Demütigung begreifen. Viele wichtige Posten wurden von Menschen aus dem Westen besetzt. Das bekommen wir jetzt zu spüren: Die fehlende Aufarbeitung dieser Jahre hängt eng mit dem Erstarken des Rechtspopulismus zusammen.

    Ich selbst wurde sechs Monate vor dem Mauerfall im Ost-Berliner Oskar-Ziethen-Krankenhaus geboren. Aufgewachsen bin ich in Lichtenberg und Friedrichshain. Meine Geburtsurkunde zieren stilecht Hammer und Sichel. Wende und Mauerfall waren in meinem Umfeld stets präsent, auch durch meine Familie. Mein Vater saß als Kriegsdienstverweigerer im Gefängnis und war später im „Neuen Forum“ aktiv, er hat mit mir viel über die Zeit gesprochen.

    Die Beschäftigung mit der DDR und der Wende ist für mich mit den Jahren wichtiger geworden. Inzwischen bin ich stolz, wenn ich sage, dass ich aus dem Osten komme. Aus dem Westen gab es lange Zeit vor allem Abwertung und Desinteresse für die Menschen aus dem Osten. Das, und die Scham über ihre Situation, entmutigte sie, ihre Geschichte zu erzählen. Es ist schön, dass sich das langsam ändert.“

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