Berlin. In seiner Wohnung fällt ein Glasschrank mit Gläsersortiment auf. Die Gläser sind wohl der gastronomischen Familientradition geschuldet. Dirk Müller wurde 1968 in Bad Saarow geboren, wuchs in Fürstenwalde auf und erlernte den Schlosserberuf. Dann wechselte er zu seinen Eltern in die Gastronomie, gemeinsam übernahm man den Barbetrieb in einem Jugendklub. Im Sommer 1989 flüchtete er über Ungarn aus der DDR. Kurz, nachdem er in West-Berlin angekommen war, fiel die Mauer. Im Gespräch erinnert er sich an die Odyssee seiner Flucht.
Herr Müller, gab es ein Schlüsselerlebnis, das Ihre Flucht damals auslöste?
Dirk Müller Für uns war es ein längerer Prozess. Meine Eltern hatten bereits Jahre vorher einen Ausreiseantrag gestellt, der war aber abgelehnt worden. Im Januar 1989 gab es dann den konkreten Anlass. Mein Vater durfte aufgrund eines Sterbefalls allein nach Hamburg reisen, wir wussten natürlich, dass er nicht zurückkehren würde. Er flog weiter nach West-Berlin. Nach seinem Wegbleiben haben meine Mutter und ich offiziell in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt mit der Begründung einer Familienzusammenführung. Der Antrag wurde abgelehnt, es gab eine Hausdurchsuchung und Verhöre, wir wurden drangsaliert. Wir mussten zum Beispiel die Hälfte der Möbel meines Vaters zurückkaufen. Meine Mutter hat später in ihrer Stasiakte gefunden, dass auch eine Haftanordnung für uns erlassen war. Davon ahnten wir im Sommer 1989 aber nichts.
Wie war Ihre persönliche Situation zu dem Zeitpunkt?
Meine Mutter und ich haben zusammengelebt, ich hatte zuletzt einen Küchenjob bei der HO, wo man mich nicht rausschmeißen konnte. Nach unserer Vorgeschichte wusste ich ja, dass ich keinen guten Job mehr bekommen konnte.
Wann begannen die Planungen für die Flucht?
Den Impuls zur illegalen Ausreise gab es, als die Ungarn am 19. August bei Sopron die Grenze nach Österreich für wenige Stunden öffneten. Einigen hundert DDR-Bürgern gelang die Flucht nach Österreich. Inzwischen hatte mein Vater es eingefädelt, dass uns Leute aus West-Berlin Devisen herüberbrachten. Die D-Mark-Scheine hat meine Mutter für die Flucht in ihrem Rocksaum eingenäht. Wir hatten Visa für Ungarn beantragt und bekommen, packten die Koffer, stiegen ins Auto und fuhren einfach los. Am 22. August reisten wir in Ungarn ein.
Welche Route haben Sie genommen?
Wir sind über die Tschechoslowakei gefahren, vor der Grenze mussten wir noch eine Nacht im Auto verbringen, weil die Grenzübergänge nachts geschlossen waren. Es war alles ein ziemliches Durcheinander, auch, weil unser Auto, ein Lada, plötzlich eine Panne auf der Autobahn hatte. Die Benzinpumpe war kaputt. Wir standen in einer Nothaltebucht, bis irgendwann der tschechische Pannendienst kam. Der Mitarbeiter sprach kein Deutsch, wir kein Tschechisch, wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt. Ersatzteile waren im Osten ja Goldstaub. Meine Mutter holte irgendwann einen 20-DM-Schein hervor. Der Mann hat sich etwas geziert, weil er das ja nicht annehmen durfte. Wir legten noch etwas Geld drauf, und dann wechselte er uns die Pumpe. Wir fuhren weiter.
Schlug Ihnen denn nirgendwo Misstrauen entgegen?
Wir waren schon angespannt, als wir abends an der ungarischen Grenze ankamen. Alle wussten längst, was in Sopron passiert war. Hätten die Uniformierten uns untersucht und das Geld gefunden, wären wir wahrscheinlich weg vom Fenster gewesen. Schließlich übernachteten wir an einer dunklen Landstraße. In der nächsten Stadt haben wir am nächsten Tag erstmal meinem Vater daheim in der Schöneberger Straße angerufen, damit er weiß, wo wir sind.
Warum sind Sie nicht so schnell wie möglich über die Grenze gefahren?
Im Fernsehen war zwar zu sehen, wie die Leute hin- und herliefen. Aber wir hatten überhaupt keine konkreten Vorstellungen, was uns in Sopron erwarten würde. Als wir dort ankamen, stießen wir auf einen großen privaten Campingplatz. Dort standen viele Menschen und Autos vor der Tür. Einer kratzte sein DDR-Schild vom Auto ab. Wir sollten reinfahren. Drinnen gab es eine Menschentraube. Es hieß, wir sollten eine Kolonne bilden. Und wir bräuchten die Autos mit vier Türen, weil alle schnell rausspringen müssten. Wir bildeten also eine Kolonne, wo vorn und hinten ein Auto mit westdeutschem Kennzeichen fuhr, in der Mitte die viertürigen Autos, voll besetzt. Die Idee war, dass die Kolonne in der Stadt nicht von der Polizei angehalten werden konnte. Was auch gelang. Wir fuhren auf den Grenzacker zu. Dort sprangen rund 40 Leute aus den Autos und rannten los.
Was nach einem guten Plan klingt?
Der Acker war frisch gepflügt, die meisten schafften es über die Grenze. Meiner Mutter versagten die Nerven, sie knickte um und konnte nicht mehr aufstehen. Wir wurden schnell umzingelt, es fielen auch Schüsse, wahrscheinlich in die Luft. Auf beiden Seiten lagen die Nerven blank. Wir mussten in einen Jeep einsteigen und wurden in eine Kaserne gebracht. Man brachte uns Schmalzstullen, etwas zum Trinken. Kurze Zeit später kam ein Deutsch sprechender Offizier herein und bat um Ruhe. Es sei immer noch eine Staatsgrenze, sagte er, da kann nicht jeder einfach rüberlaufen, wie er will. Dann wurden unsere Namen aufgeschrieben. Keiner war auf die Situation vorbereitet. Mit Armeewagen wurden wir zu unseren Autos gefahren mit der Auflage, das Grenzgebiet umgehend zu verlassen. Wir sind zum Campingplatz zurückgefahren.
Haben Sie es noch einmal versucht?
Nein, es gab keinen Plan mehr, weil die Grenze bei Sopron abgeriegelt war. Uns blieb nichts anderes übrig, als nach Budapest in die bundesdeutsche Botschaft zu fahren. Mit noch ein paar Leuten, die wir auf dem Campingplatz kennen gelernt hatten, fuhren wir also nach Budapest. Die Botschaft war bereits voll mit DDR-Flüchtlingen, die nahmen niemanden mehr auf. Wir bekamen einen Plan für eine Außenstelle. Wir sind auf einem Kirchengelände gelandet, wo das Malteser Hilfswerk bereits dabei war, Zelte aufzubauen. Irgendwann kamen Leute von der Botschaft, und wir erhielten unsere neuen Reisepässe.
Damit sind Sie dann über die Grenze gegangen?
Wir konnten nicht ausreisen, weil wir keinen Einreisestempel im Pass hatten. Wir blieben noch gute zwei Wochen in dem Lager. Es war eine verzwickte Lage, weil offenbar Stasi-Leute versucht haben, uns zu provozieren und Stress zu machen. Wir sollten ruhig bleiben, hieß es. Am 11. September wurde uns offiziell bekannt gegeben, dass wir nach Österreich ausreisen dürfen. Am nächsten Tag sind wir losgefahren – durch bis ins niederbayerische Deggendorf, wo es ein Erstaufnahmelager gab. In Nürnberg haben wir dann unser Auto am Flughafen stehen lassen und sind nach Tegel geflogen. Am 13. September sind wir in West-Berlin angekommen.
Wann setzte bei Ihnen das Gefühl der Erleichterung, von Freiheit ein?
Das war schon in den letzten Tagen in Budapest, als wir spürten, eine Auflösung liegt in der Luft. Der Botschafter berichtete uns regelmäßig über die Verhandlungen und er war dabei von Menschenmassen umringt. Die große Erleichterung zog ein, als wir mit dem Flugzeug über die Mauer geflogen sind, um in Tegel zu landen. Die Mauer sah auf einmal so klein aus.
Wie haben Sie den 9. November wahrgenommen?
Damals habe ich noch bei Bekannten gewohnt. Ich habe es im Fernsehen gesehen und konnte es erst gar nicht glauben. Der Mauerfall war ein tolles Gefühl. Man darf nicht vergessen, dass ich Freunde und Kontakte in Fürstenwalde zurückgelassen hatte und dachte, dass ich sie nicht wiedersehen würde.
Was haben Sie auf Ihrer Flucht über Menschen und Politik gelernt?
Politisch waren wir nie. Wir gehörten nicht zu denen, die die „Aktuelle Kamera“ geguckt haben. Wir haben auf die Politik des Westens vertraut, weil jeder wusste, dass es so im Osten nicht weitergeht. Und was das Menschliche angeht: Später haben wir aus der Stasiakte meiner Mutter erfahren, dass nicht alle unsere Freunde uns auch gut gesinnt waren, sondern Spitzel, die über uns Berichte schrieben.