In der Gedenkstätte Hohenschönhausen erleben Besucher ein düsteres Kapitel der DDR-Geschichte. Historiker bemühen sich noch immer, einige der Geschehnisse in der ehemaligen Haftanstalt aufzuklären.

06:15

Auch wenn seit Jahrzehnten kein Strom mehr durch die Drähte auf der Mauer fließt und niemand mehr in den Wachtürmen an der Genslerstraße Posten bezieht: Im Dämmerlicht sieht die Gedenkstätte Hohenschönhausen aus wie ein Gefängnis in Betrieb. Der Haustechniker Bernd Marx beginnt seinen Dienst und macht einen Rundgang durch die Anlage. Er geht in den Altbau, in dessen Keller sich das sogenannte U-Boot befindet. In einem langen Gang reihen sich dort schmale Zellen aneinander, sie scheinen kaum größer als das Innere eines Kleiderschranks zu sein. Bernd Marx schließt einige der Zellen auf, damit die Besucher sie später besichtigen können.

07:55

„Manchmal ist unsere Arbeit regelrecht kriminalistisch“, sagt Peter Erler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zeitzeugen-Archiv. Rund 600 Interviews mit ehemaligen Häftlingen haben Erler und seine Kollegen bereits geführt. Die Geschichte der Stasi-Haftanstalt ist meist nur unzureichend dokumentiert und lässt sich nicht immer nachvollziehen. Einer der Zeitzeugen berichtete zum Beispiel von einem geheimen Arbeitslager mit dem Namen „Taiga“ in der Nähe von Angermünde. Unter den Häftlingen in Hohenschönhausen waren Physiker und andere Akademiker, die dort in einem geheimen Labor einen neuen Raketenbrennstoff entwickeln sollten. Peter Erler mochte die Geschichte kaum glauben, als er sie zum ersten Mal hörte. Doch sie ist, wie auch Vermerke in Akten belegen, wahr. Viele der Zeitzeugen empfinden Erleichterung, wenn die Geschehnisse von damals ans Licht kommen. „Wir arbeiten nicht nur für die Geschichtsbücher, sondern auch für die Menschen, die hier inhaftiert waren“, sagt Peter Erler.

09:00

Die Gedenkstätte öffnet. Während sich die ersten Besucher ein wenig beklommen auf dem alten Gefängnishof umsehen, beginnen in der Anmeldezentrale die Telefone zu läuten. Ungefähr 65 Gruppen besichtigen die Gedenkstätte täglich, außerdem gibt es Rundgänge, an denen auch einzelne Besucher teilnehmen. Meist sind es ganz alltägliche Fragen, die Reinhard Zahn und seine Kollegen beantworten. Wie sind die Bus- und Bahn-Anbindungen? Wann beginnen die ersten Führungen?

10:25

Umringt von Schülern startet Bernd Marx den Gefangenentransporter vom Typ W50. „Das Rangieren ist ein kräftezehrender Job“, sagt er. Es dauert Minuten, bis der Motor anspringt und der Haustechniker den Wagen in die Garage fahren kann.

11:30

Im Dezember 1989 schloss die ehemalige Untersuchungshaftanstalt. 1994 eröffnete die Anlage als Gedenkstätte für Besucher. Seit vergangenem Jahr können sie zusätzlich die Dauerausstellung „Gefangen in Hohenschönhausen: Zeugnisse politischer Verfolgung 1945 bis 1989“ besichtigen. Zu sehen sind Fotos, Briefe und andere Exponate. Regina Gmelin, eine Touristin aus Frankfurt, betrachtet eine Vitrine mit der Kleidung der Häftlinge. „Man bekommt hier wirklich eine Gänsehaut“, sagt sie zu Andreas Engwert, dem Kurator der Ausstellung.

„Was mich besonders fasziniert, sind die Strategien, die Häftlinge entwickelt haben, um hier die Gefangenschaft zu überstehen“, erklärt der Historiker und zeigt später einige kleine Zettel in einem Glaskasten. „Ihre Durchsuchungsaktionen amüsieren mich köstlich, sie bewirken natürlich nichts“, ist auf einem der Zettel zu lesen, auf einem anderen steht nur „Ätsch!!!“. Andreas Engwert erzählt, dass dieser Häftling solche kleinen Botschaften immer wieder in der Zelle versteckt hat, um die Wärter zu ärgern.

12:50

„Viele der Schülergruppen, die wir betreuen, kommen aus dem ehemaligen Westdeutschland“, sagt Ute Kiezmann aus dem Lernzentrum. „Das liegt auch daran, dass es in neuen Bundesländern wie Sachsen ebenfalls interessante Gedenkstätten gibt.“ Gemeinsam mit ihren Kollegen erarbeitet die Lehrerin Konzepte für Schüler-Workshops. Einige der Gruppen werden von ehemaligen Häftlingen durch die Gefängnisanlage geführt, andere nehmen im Lernzentrum an Tagesseminaren teil. „Manchmal stehen wir hier vor den Ruinen humanistischer Bildung“, sagt Ute Kiezmann. „Uns sind schon Schüler begegnet, die Hitler und Honecker verwechselt haben.“

14:05

Noch immer kommen Reisebusse mit Schülergruppen an. Die meisten von ihnen sind für fünf Tage in Berlin, wie ein Oberstufenkurs aus Hamburg. „Wir haben zwar schon viel zu dem Thema in der Schule gehört“, sagt ein Mädchen, das sich auf dem Gefängnishof umschaut. „Aber es ist etwas anderes, wenn man das alles vor Ort sieht.“ Ein Zeitzeuge erzählt den Jugendlichen von der Schikane, der die Häftlinge damals ausgesetzt waren.

15:15

Eines der wichtigsten Arbeitsmittel von Jessica Steckel und Michael Lotsch ist eine Deutschlandkarte, auf der rote Punkte zu sehen sind. Jeder Punkt steht für einen Ex-Häftling, der Vorträge in Schulen und Vereinen hält. Damit die Anreisekosten überschaubar bleiben, werden sie in der Nähe ihrer Wohnorte eingesetzt. Die beiden Mitarbeiter des „Koordinierenden Zeitzeugenbüros“ kümmern sich um die Terminplanung, aber auch um die pädagogische Schulung. „In diesem Jahr hatten wir 630 Veranstaltungen“, sagt Jessica Steckel. „Wegen des 25. Jahrestags des Mauerfalls waren es mehr denn je.“

16:05

Der Neubau stammt aus den 50er-Jahren. Die Zellen dort sind größer als im U-Boot, wirken aber genauso bedrückend. Guy Batey, ein Fotograf aus London, arbeitet an einem Kunstprojekt über Berlin. Mit einer historischen zweiäugigen Kamera fotografiert er Möbel und Wände der Zellen.

17:10

Die Historikerin Jennifer Kuhn ist seit Ende des Sommers bei der Gedenkstätte beschäftigt. Pressesprecher André Kokisch führt sie zum ersten Mal durch das Depot. In dem Kellertrakt im Neubau lagern Möbel, Akten und andere Exponate. In einem Raum sind Dutzende alter Zellentüren untergebracht. Die meisten sind aus Metall, sie wurden mit mehreren Riegeln versehen und wirken unüberwindlich. „Diese Tür hier müsste aus Cottbus stammen“, erklärt Kokisch. „Nicht alle Exponate sind aus Hohenschönhausen.“

18:00

Die Mitarbeiter in der Telefonzentrale beenden ihren Dienst. Die letzten Besucher steigen in einen Reisebus. An der Genslerstraße in Hohenschönhausen geht es plötzlich wieder sehr ruhig zu.