Zwölf Stunden

Von Prinzessinnen und der „Frau für alle Felle“

| Lesedauer: 6 Minuten
Nele Mailin Obermüller

Zirkus ohne Tiere sei Varieté, sagt Christel Sembach-Krone. Sie ist die Direktorin des Circus Krone, der am Hauptbahnhof gastiert. Ein Besuch bei Artisten, Handwerkern – und jeder Menge Tieren.

06:50 Seltsame Geräusche sind auf dem Festplatz an der Heidestraße in Mitte zu hören. Immer wieder wird der dröhnende Verkehrslärm und das Rattern der Bauarbeiten in der Nähe des Hauptbahnhofs von einem Bellen übertönt. Es ist das „Au, au, au“ der vier Circus Krone Seelöwen, Charlie, Chico, Tino und Joey, die wach geworden sind und nun lautstark ihre erste Mahlzeit verlangen.

08:00 Beim Frühstück sitzen bereits einige der rund 350 köpfigen Krone-Mannschaft. Die Mitarbeiter unterhalten sich vor dem Küchenwagen an weißen Tischen, sprechen in gedämpfter Lautstärke, hauptsächlich auf Rumänisch und Bulgarisch. Jeden Morgen werden hier fünf Kilogramm Bohnenkaffee, verschiedene Müslis, 400 Brötchen und Unmengen Butter und Marmelade zubereitet. Mittags und abends gibt es dann deftige Hausmannskost. „Ohne Fleisch werden unsere Männer nicht satt“, sagt Koch Arpad Szögi.

09:00 Die „Zirkusprinzessin“ Jana Mandana steigt aus ihrem dunkelgrauen Wohnmobil und geht in Richtung Pferdestall, wo sechzig Hengste auf sie warten. „Die Pferde stehen immer in der selben Reihenfolge. Bei den ständigen Reisen ist es für die Tiere wichtig, dass so viel wie möglich gleich bleibt“, sagt die noch ungeschminkte sogenannte „Frau für alle Felle“, die mit Pferden, Kamelen, Elefanten und anderen exotischen Säugetieren arbeitet. „Und hoch“, ruft Mandana wenig später ihren Hengsten im Zelt zu. Brav stellen sich die Araber auf ihre Hinterbeine. Mehrere Mitarbeiter schauen den Proben zu. Sie reden wenig und rauchen viel. Eigentlich warten sie nur auf Mandanas Signal, um die Tiere zurück in den Stall zu bringen. Vorher wird jedes Pferd einmal in der Manage im Kreis gedreht, damit es sich den Ausgang nicht merkt.

10:00 In der eigenen Zirkus-Schule, die wie fast alles auf dem 30.000 Quadratmeter Areal ein Wagen ist, unterrichtet Christina Kretschmann seit zwei Jahren. „Ich bin zum Zirkus gekommen, weil ich ein unruhiger Geist bin“, sagte sie. Vor Krone war sie bei einem französischen Zirkus, davor bei verschiedenen Montessori-Schulen. „Aber dort haben mich die Schüler geärgert. Oder ich sie“, sagt Kretschmann und widmet sich dann wieder ihren zwei Schülern und dem Unterricht.

11:00 Direktorin Christel Sembach-Krone sagt, Zirkus ohne Tiere sei Varieté. Das Herzstück von Circus Krone seien daher seine Tiere. Tagsüber bemerkt man sie aber kaum. Die Löwen schlafen, die Lamas blicken gelangweilt aus ihren Gehegen. Ein Tierpfleger reinigt das Fell des ebenfalls entspannt vor sich hinkauenden Kamels. Der Verkehr und die vielen Baustellen in der Umgebung störten die Tiere nicht, meint Pressesprecherin Susanne Matzena. „Für uns Menschen ist der Lärm unangenehmer“.

12.30 Unter Aufsicht des Seelöwen-Trainers Roland Duss dürfen zu besonderen Anlässen auch Zirkusbesucher in das Becken. Gerade ist Anke Myrrhe im Wasser und wird von den Seelöwen geküsst. Ihr lautes Lachen feuert die Seelöwen noch mehr an. Immer wilder gebären sie sich.

12:45 „Vorsicht, Kopf einziehen!“ warnt Daniel Gruia an der niedrigen Tür zur Sattlerei, wo für die Shows mehr als 200 Geschirre instand gehalten werden. Zudem stellen die vier Mitarbeiter neue Zierstücke für die Elefanten her. Das türkis-lila-farbene Elefanten-Kopfstück ist für die Bollywood Nummer im Programm. Die Tiere gehen mit ihrem Schmuck recht achtlos um. Für Gruia ist nach den Vorstellungen immer viel zu tun.

13:30 Die Tänzerin Nathalia aus der Ukraine sitzt mit dem kleinen David aus Brasilien in der Sonne und malt mit bunter Kreide Bilder, Buchstaben und fremde Wesen auf den Asphalt. „Ich bin gerne mit den Brasilianern zusammen. So kann ich mein Portugiesisch wieder ein bisschen auffrischen“, sagt Nathalia, die zwei Jahre in Rio de Janeiro getanzt hatte bevor sie für ihr aktuelles Engagement zum Circus Krone kam.

14:30 Das Läuten einer alten Schiffsglocke signalisiert, dass die Show in einer halben Stunde beginnt. Mit geübter Hand beginnt der sogenannte Weißclown Yann Rossi sein Gesicht zu schminken. „Normalerweise hat jeder Weißclown ein anderes Gesicht. Ich aber trage dasselbe wie mein schon Großvater“, sagt Rossi. Wie viele der Künstler im Ensemble stammt er aus einer Zirkusfamilie. Die Melancholie eines Clowns ist ihm daher nicht fremd. Aber: „Vor dem Publikum vergisst man jeden Schmerz“, sagt er.

15:00 Lichter, laute Musik und Popcorngeruch: Im 18 Meter hohen Zelt hat die Vorstellung begonnen. Bis 18 Uhr sind die 54 Krone-Artisten beschäftigt. Dann haben sie eine Stunde Pause, bevor es mit der zweiten Vorstellung um 19 Uhr weiter geht. Gegessen wird in dieser Zeit nur wenig. Saltos auf vollen Magen sind eher unbekömmlich.

16:00 Auch Constantin und Iudita Dimoiu haben zu tun, allerdings schaut ihnen bei der Arbeit niemand zu. Das Ehepaar ist seit einem Jahr in der Krone-Herrenschneiderei beschäftigt. Ihre zwei Töchter leben bei Iuditas Mutter in Ungarn. Das sei schwer aber unumgehbar. In ihrer Heimat Battonya konnten die Eltern nämlich keinen anständigen Job finden.

17:00 Zurück im Zelt, betritt der Dompteur Martin Lacey, Jana Mandanas Ehemann, mit seinen Löwen die Manege. Die Katzen fauchen laut und schlagen immer wieder mit ihren mächtigen Tatzen nach Laceys Stock. „Alles nur gespielt“, sagt er nach seinem Auftritt. „Ein guter Dompteur versucht, nicht dem Charakter seiner Tiere entgegenzuwirken, sondern inszeniert ihn“, sagt der Brite, dessen Familie schon seit 60 Jahren mit Raubkatzen arbeitet. Kurze Zeit später führt Lacey den 3,5 Tonnen schwere Tsavo in die Manege. Das Nashorn läuft, so gut es kann, zur Diskomusik im Kreis, hält für seinen Applaus kurz inne und verlässt dann sehr langsam das Zelt.

18:50 Fast alle Nachmittagsbesucher haben das Areal verlassen. An den Kassen stehen Besucher für den Abend an. „Gibt es auch Raubtiere?“ fragt ein Junge seinen Vater, sein Gesicht ist von bunten Zirkus-Spots angeleuchtet. Dann blickt er zu einem Mädchen, das aus der früheren Vorstellung kommt und offenbar von den Akrobaten inspiriert wurde. Statt zu laufen, schlägt es ein Rad nach dem anderen.