300 Jahre Verkehrsgeschichte

Berliner Schnauze auch im Pferde-Taxi

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Annette Kuhn

Der erste Oberleitungsbus, die erste Straßenbahn, das älteste U-Bahn-Netz: Ein Buch zeigt, wie sich der Verkehr in Berlin entwickelt hat.

Der Berliner Taxifahrer ist offenbar keine Erfindung der Neuzeit. Vor sich hinschnauzen oder den Fahrgast anschnauzen konnten wohl schon Chauffeure, als Taxis noch nicht mit Motor, sondern mit Pferden angetrieben wurden. Die ersten Berliner Droschkenkutscher im 18. Jahrhundert, die so etwas wie den Grundstein des Berliner Personennahverkehrs legten, in dem sie gegen Entgelt Menschen durch die Stadt fuhren, waren jedenfalls für ihr Unfreundlichkeit berüchtigt. Und da überdies die Kutschen in schlechtem Zustand waren, wurde der Pferdetaxi-Betrieb bald wieder eingestellt. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde mit dem Fuhrbetrieb von Simon Kremser ein Kutschenunternehmen aufgebaut, das funktionierte. Aber schließlich legte Kremser bei der Auswahl des Personals auch Wert auf gute Manieren. Nicht zuletzt deshalb besteht der Begriff Kremser bis heute.

Diese und viele andere Beobachtungen und Episoden sind nun in dem neuen Buch „Tempo“ zur Verkehrsgeschichte der Stadt gesammelt. Der Autor Jan Gympel erzählt darin, wie die Berliner sich seit dem 18. Jahrhundert fortbewegt haben und zeigt das auch in zahlreichen historischen Fotos und Zeichnungen.

Die erste Buslinie Berlin führte in ein Ausflugslokal im Tiergarten

So richtig in Fahrt geriet das Berliner Straßenleben und vor allem der öffentliche Personennnahverkehr demnach mit der Erfindung der Eisenbahn und der Dampflokomotive. In der Schifffahrt war die Dampfmaschine schon im 18. Jahrhundert im Einsatz, auf den Schienen aber erst Anfang des 19. Jahrhundert. Ab 1838 gab es erstmals einen durchgehenden Verkehr von Berlin nach Potsdam und schon bald danach entstanden Eisenbahnverbindungen von Berlin aus in alle Richtungen, jeweils mit eigenem Sackbahnhof. Erhalten ist davon nur noch der Hamburger Bahnhof – allerdings als Museum.

Nach der Bahn kamen 1846 die Omnibusse. 120 Pferde gehörten zum Start zur Flotte, die insgesamt 20 Wagen durch die Stadt zogen. Das waren vor allem Decksitzer, in denen die Menschen auf zwei Ebenen saßen – oben allerdings ohne Dach. Die erste Linie führte vom Alexanderplatz durch das Brandenburger Tor bis zur damaligen Gaststätte „Odeum“ an der Tiergartenstraße. Der Bus fuhr im 15-Minuten-Takt, die Fahrt kostete zwei Silbergroschen. Undenkbar aus heutiger Sicht: Einsteigen durfte man auf Zuruf, überall auf der Strecke.

Arzt warnte vor Hirnschäden beim Tempo von 30 Stundenkilometern

1865 fuhr dann auch die erste dampfbetriebene Straßenbahn durch die Stadt und verdrängte schon bald die Pferdebusse: Sie war schneller und konnte mehr Menschen transportieren. Busse wurden erst wieder konkurrenzfähig, als die Straßen in besserem Zustand waren und der Betrieb Anfang des 20. Jahrhunderts auf Benzinmotor umgestellt wurde.Wobei das Tempo damals durchaus kritisch betrachtet wurde. So erzählt Gympel, dass ein Arzt vor Hirnschäden warnte, wenn sich Menschen einem zu schnellen Tempo aussetzen würden. Der Mediziner hatte bei seiner Warnung die Eisenbahn im Blick, allerdings fuhr selbst die damals kaum schneller als 30/40 Stundenkilometer.

Mit dem Einsatz der Elektrizität im Verkehr nahm Berlin eine Pionierrolle ein. Schließlich war die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts der größte Industriestandort Deutschlands und mit Siemens war der Begründer der Elektrotechnik vor Ort. Die erste elektrische Straßenbahn der Welt fuhr ab 1881 in Lichterfelde. Und 1882 testete Siemens den ersten Oberleitungsbus der Welt, in Halensee, das damals noch vor Berlin lag. Das Modell hieß „Electromote“, sah allerdings noch ehr aus wie eine Kutsche und nicht wie ein Bus. 1902 wurde dann auch das Berliner U-Bahn-Netz entwickelt, das älteste in Deutschland.

1928 waren in Bus und Bahnen 1,8 Milliarden Fahrgäste unterwegs

Das Buch beschreibt aber nicht nur die Entwicklung des Verkehrs, es zeigt auch die Hintergründe. Denn ein schneller Ausbau des Nahverkehrs war dringend geboten, weil die Stadt in einem atemberaubenden Tempo wuchs. 1737 umfasste das Stadtgebiet gerade mal 13 Quadratkilometer, 1861 waren es 60 Quadratkilometer, auf denen mehr als eine halbe Million Menschen lebten. 1920 wurde Berlin dann mit den Nachbargemeinden zu Groß-Berlin zusammengelegt und umfasste auf einen Schlag eine Fläche von 878 Quadratkilometern, hatte also fast die heutige Größe von 892 Quadratkilometern erreicht. Entsprechend stark wuchs die Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs. 1928 fuhren bereits 1,8 Milliarden Fahrgäste mit Bus und Bahn. Um den Nahverkehr besser zu koordinieren, gründeten sich schließlich 1929 die Berliner Verkehrsbetriebe, die heutige BVG.

Nach der U-Bahn folgte der Bau des Flughafens Tempelhof, bis zum Zweiten Weltkrieg der größte in Europa und das Autobahnnetz, in dessen Zentrum auch Berlin stand. 1936 wurde in Berlin das erste Autobahnstück vom Berliner Ring bis Joachimsthal eröffnet.

18 Menschen starben 1908 beim größten Unfall in der Berliner U-Bahn-Geschichte

Das alles liest sich wie eine große Erfolgsgeschichte, doch tatsächlich gab es auch Katastrophen, Pannen und unvollendete Bauprojekte - lange vor dem BER. So wollte der Kölner Unternehmer Eugen Langen, der auch an der Erfindung des Ottomotors beteiligt war, eine Schwebebahn in Berlin bauen. 1902 wurde das Projekt in Berlin von Gesundbrunnen bis Neukölln vorgestellt und 1908 am Rosenthaler Platz ein Probebau errichtet. Über drei Stützen kam das Projekt allerdings nicht hinaus und die drei Stützen verschwanden 1913 wieder. Die 1901 eröffnete Schwebebahn in Wuppertal blieb die einzige ihrer Art.

Zum größten Unfall in der Berliner U-Bahn-Geschichte kam es im September 1908, als ein Zugführer am Gleisdreieck ein Haltesignal übersah und in einen anderen Zug hineinfuhr. Ein Wagen stürzte acht Meter tief vom Viadukt, ein zweiter blieb halb zertrümmert an ihm hängen. 18 Menschen starben bei dem Unglück. Und beim Bau der S-Bahn südlich des Brandenburger Tors stürzte im August 1935 ein Teil der Baugrube ein, 19 Arbeiter starben.

Der S-Bahn-Mörder von Karlshorst versetzt Berliner in Angst

Die öffentlichen Verkehrsmittel waren mitunter auch ein Ort der Verbrechen. Der vielleicht spektakulärste Fall war der legendäre „S-Bahn-Mörder“, der die Berliner 1940 und 1941 in Angst und Schrecken versetzte. Sieben Frauen wurden an den Stationen Rummelsburg und Karlshorst überfallen, vergewaltigt und aus dem fahrenden Zug geworfen. Und auch in den angrenzenden Straßen wurden Frauen getötet. Erst Monate später konnte der Serienmörder Paul Ogorzow verhaftet werden.

Und Jan Gympel erzählt schließlich auch von Dingen , die sich so nur in Berlin zutrugen konnten. Zum Beispiel von der Angst der West-BVG zu Zeiten des Kalten Krieges vor dem Klau ihrer neuen U-Bahn-Wagen durch die Ost-BVG. Daher durften die neuen Wagen nicht auf der Strecke der heutigen U8 durch den Ost-Teil der Stadt fahren, weil es dort eine Verbindung zum Ostnetz gab. Und das Buch erinnert an eine weitere berlinspezifische Besonderheit Stadt: Auf Bahntickets in die Stadt stand bis zur Eröffnung des Hauptbahnhofs 2006 als Ziel Berlin Stadtbahn. Ein Relikt noch aus der Entstehungszeit der Bahnstrecke, die sich wie ein „in die Länge gezogener Hauptbahnhof“ verhielt und auch die Weiterfahrt mit der S-Bahn erlaubte.

Jan Gympel: „Tempo. Berliner Verkehrsgeschichte“, Elsengold Verlag, 29,95 Euro.