Am 28. Juni vor 100 Jahren geschah das Attentat von Sarajewo. Es löste den 1. Weltkrieg aus. Die Berliner Morgenpost erinnert in einer Serie mit originalen Zeitungsseiten an die Jahre 1914-1918.

Ein Gang ins Archiv ist eine Begegnung. Man blättert in großen Bänden alter, vergilbter Zeitungen, das Papier ist brüchig, man muss sehr vorsichtig sein, und plötzlich tut sich eine vergangene Welt auf. Es ist ein Eintauchen. Und dann sind sie da, die Jahre des Ersten Weltkriegs – liegen aufgeblättert vor einem. In der Berliner Morgenpost und der Berliner Illustrirten Zeitung.

Aus dieser Begegnung ist unsere 14-teilige Serie zum Ersten Weltkrieg entstanden. Im Zentrum steht eine repräsentative Seite aus der Zeit – unmittelbarer Vorkrieg oder Krieg – die wir als Faksimile abbilden, versehen mit interaktiven Erklärungen. Damit jeder sich selbst ein Bild machen kann. Lesen wie der Zeitungsleser von 1914-1918. Wir beginnen mit dem Attentat von Sarajewo und enden nach 14 Teilen im Sommer 1919 mit dem Versailler Frieden. Kriegserklärung, Siegestaumel, der Schrecken der Schützengräben, der Albtraum des Gaskrieges und der zunehmende Hunger in Berlin, wo ab 1915 die Rationierungen beginnen – all das wird vorkommen. Umrahmt und erläutert mit Beistücken, die wir zusammengestellt und verfasst haben.

Die Redakteure der Berliner Morgenpost von heute treffen auf die Berliner Morgenpost von gestern. Sehen die bildgewaltige Berliner Illustrirte Zeitung durch, ein erstes wöchentliches Magazin, das von seinen Fotos lebte. Für eine Tageszeitung war der Druck von Fotografien in dieser Zeit noch nicht möglich, zu zeitraubend, zu aufwendig. In diese Lücke stieß die Berliner Illustrirte Zeitung, auch eine Ullstein-Gründung wie die Berliner Morgenpost. Doch während in Friedenszeiten Mode, Klatsch und Kultur die Berliner Illustrirte Zeitung dominierten, dazu ein bisschen pittoreske Politik und Kaiserhaus, tritt die Zeitschrift zwischen 1914-18 in Uniform an: Krieg, Krieg, Krieg. Es gibt kein anderes Thema in den vier Jahren.

Anzeige für erprobten Kugelpanzer „Prallab“

Aber wird dann nicht auch die Serie uniform? Fast zwangsläufig? Im Gegenteil. Sie lässt einen den Ersten Weltkrieg mit anderen Augen sehen – konkreter. Manchmal überraschend, manchmal tieftraurig, manchmal sogar lustig. Die Anzeige für den erprobten Kugelpanzer „Prallab“, eine Erfindung von „Hermann Fürstenthal. Alleiniger Fabrikant. Unter d. Linden 75“. Der „Prallab“ hat sich offenbar nicht durchgesetzt. Oder die langen Reihen Todesanzeigen junger Männer, die plötzlich die Rubrik „Familien-Nachrichten“ füllen. Dort, wo früher Verlobungen angekündigt wurden. Unmittelbar über den Todesanzeigen eine Werbung für Dr. Oetkers „Gustin“ – „an Stelle des englischen Fabrikats ,Mondamin’!“. Es ist Krieg, jetzt kauft man patriotisch ein.

Und natürlich die Beiträge der Redaktion. Die Titelseiten sind meist markig gefüllt. „Unser Siegeslauf“, „Seeschlacht“, „Westlicher Kriegsschauplatz“, „Oestlicher Kriegsschauplatz“. „Die Kraft der Tat“, heißt ein Leitartikel vom 16. Dezember 1916. Er trifft den Tenor der Zeit. Es ist eine Zeitung unter scharfer Zensur, die mehr und mehr um sich greift. „Die Zensur erstreckte sich nicht bloß auf militärische Dinge, sondern allmählich wurde alles zu einer militärischen Angelegenheit“, heißt es 1927 im Rückblick „50 Jahre Ullstein“. Zehn Jahre danach klingt der Frust der Journalisten noch durch.

Eine Stimme weit über Berlin hinaus

Eine total gleichgeschaltete Zeitung? Nein, man würde der Berliner Morgenpost und seinen Redakteuren unrecht tun, wenn man meint, alle hätten am Redaktionsschreibtisch Gewehr bei Fuß gestanden. Die Berliner Morgenpost und ihre Schwester, die Berliner Illustrirte Zeitung, sind zutiefst liberal geprägte Blätter. Liberal wie die Herausgeber, die fünf Ullstein-Brüder, die den Zeitungskonzern von ihrem Vater Leopold Ullstein übernommen haben. Seit 1898 gibt es die Berliner Morgenpost, und sie ist eine Stimme weit über die Stadt hinaus. Kraftvoll, liberal, bürgerlich und kritisch. Die Redakteure sind selbstbewusst. Aber es gibt auch andere.

Es „hatten sich, wie überall in der Gesellschaft, so auch in der Redaktion die Gegensätze bemerkbar gemacht zwischen denen, die den Heeresberichten trauten und auf einen sicheren Sieg rechneten, und denen, die ihnen durchaus nicht trauten und daher einen schleunigen Ausgleichsfrieden befürworten wollten.“ Das schreibt Arthur Bernstein rückblickend im Jahr 1927. Wie so viele Morgenpost-Redakteure muss er gleich zu Beginn den Redaktionsposten gegen den Schützengraben tauschen. 1386 Angehörige des Ullstein-Verlags gingen an die Front, 193 davon fallen. Die ersten Gefallenen sind ein ehemaliger Volontär der Berliner Morgenpost und der England-Korrespondent der Zeitung. Ullstein fühlt sich durch all die Kriegsjahre für die Mitarbeiter verantwortlich, als „Ullsteiner“ erhält man regelmäßig Päckchen mit Zigaretten, Essen und Likören an die Front. Nach dem Krieg wird man eine große Gedenktafel für die gefallenen Mitarbeiter im Treppenhaus des Verlages anbringen.

„Die lustigen Abende der Brotkartendiebe“

Die anderen, die nicht an den Sieg glauben, die Zweifler wie sie Bernstein beschreibt, von denen kann man auch Stücke in der Berliner Morgenpost lesen. Aber sie sind schwieriger zu finden, sie nehmen – um der Zensur zu entgehen – Umwege. Ein langer Leserbrief, ungekürzt abgedruckt, der sich 1915 über den Irrsinn beschwert, dass ein Zirkus nicht in Berlin auftreten darf. Zensur!

Ein Gerichtsreporter schreibt 1917 ausgenzwinkernd: „Die lustigen Abende der Brotkartendiebe“. Die Berliner Bäcker protestieren 1916 gegen die Verordnung: „Backen ohne Hefe“ und finden in der Morgenpost Gehör. Die hinteren Seiten des Blattes sind manchmal interessanter als die vorderen.

Diese Mischung aus Alltag und offiziellem Heeresbericht prägt unsere 14-teilige Serie. Sie bringt das Berlin des Ersten Weltkriegs nah. Das Artistenpaar „Fräulein Dicke Berta“ und „Herr Mörser“ – „sie besitzt ein umfangreiches Organ (42 Zentimeter)“ – die 1915 auftreten, wir hätten sie sonst nie kennengelernt. Der Gang in das Archiv hat sich gelohnt. Die Beute war reich.

„Deutschland führt den Krieg um Nichts“

Nur einen Artikel konnten wir nicht nachdrucken, dabei war er unglaublich wichtig. Er stammt von besagtem Arthur Bernstein. Am 30. Juli 1914 schreibt der erfahrene Redakteur einen Leitartikel für die Berliner Morgenpost, eine Sternstunde des Journalismus. Der Leitartikel ging in den Satz, doch gedruckt wurde er nie. Man nahm ihn in letzter Minute aus dem Blatt heraus, vorauseilend – er passte nicht in die Kriegs-Jubelstimmung. „Der einzige Sieger dieses Krieges wird England sein“, schreibt Bernstein dort. „Deutschland führt den Krieg um Nichts, wie es in den Krieg hineingegangen ist für Nichts. – Eine Million Leichen, zwei Millionen Krüppel und 50 Milliarden Schulden werden die Bilanz dieses „frischen, fröhlichen Krieges“ sein. – Weiter nichts.“ Einen Tag später erklärt Deutschland Russland den Krieg. Der ungedruckte Leitartikel hat nur überlebt, weil die Bleiplatten erhalten blieben.

Arthur Bernstein hat im Sommer 1914 vorausgesehen, was kommen würde. Manchmal ist Journalismus sehr weitsichtig, manchmal total beschränkt. Deshalb sind Zeitungen ein Spiegel ihrer Zeit. Und deshalb machen wir diese Serie. Mit allen Facetten des Krieges und Berlins im Ersten Weltkrieg.

Alle bisher erschienenen Serienteile finden Sie hier.

Fahren Sie mit der Maus über die Originalseiten der Berliner Morgenpost und lesen Sie die Erklärungen, die sich hinter den Infopunkten verbergen.