Man hätte es kaum schöner formulieren können, als jener junge Mann, der am Donnerstag die Veranstaltungen auf Bühne Nummer zehn moderiert: „Danke, dass du dich als Psychiater ins Irrenhaus re:publica gewagt hast“, ruft er lachend, als Jan Kalbitzer vom Podium steigt. Das ist natürlich nur ein flapsiger Kommentar mit einer ordentlichen Prise Selbstironie - aber im Kern hat der Moderator natürlich Recht. Denn der Psychiater Kalbitzer ist an diesem Tag genau dahin gekommen, wo man am ehesten die Notwendigkeit seiner Arbeit versteht: zur Internetkonferenz re:publica, die an diesem Donnerstag zu Ende geht.
Drei Tage lang haben hier 6000 Gäste mit rund 500 Rednerinnen und Rednern diskutiert. Über das Netz und die Digitalisierung, über Politik und Europa, über den Wandel von Journalismus und Kommunikation - und über die Herausforderungen, die sich der Welt im 21. Jahrhundert durch die technische Entwicklung stellen. Wer dazu in die Hallen des Station am Gleisdreieck kam, hatte als Eintrittskarte und Erkennungsmerkmal nicht nur ein hellgrünes Armband bekommen, sondern auch einen Anhänger um den Hals. Bei den allermeisten war darauf zwar der bürgerliche Name zu lesen - vor allem aber auch der Name des eigenen Twitterprofils. Es dürfte einer nicht-repräsentativen Beobachtung zufolge bei der Republica wohl niemanden gegeben haben, der nicht bei dem sozialen Netzwerk angemeldet ist.
„Die Digitalisierung verändert alles“
Und dann kommt ausgerechnet Jan Kalbitzer hierher. Im vergangenen Jahr hatte der Berliner Arzt fast weltweit für Furore gesorgt. In einer Fallstudie hatte er die Hypothese formuliert, dass Twitter wegen der sehr kurzen Nachrichten mit vielen Symbolen und mit automatisiertem Spam bei prädisponierten Menschen zu einer Psychose führen oder diese verstärken könne. Das wurde in sozialen Medien und von Fachkollegen scharf kritisiert. Sie befürchteten die eher populistische These, dass Internetnutzung im Allgemeinen schlecht für die Psyche sei.
Es hat Kalbitzer in der Folge einige Anstrengung gekostet, diesen Eindruck wieder aus der Welt zu schaffen. Vor allem aber habe es ihn zu einer wichtigen Erkenntnis gebracht, wie er auf Bühne zehn der re:publica erzählt: „Die Digitalisierung verändert alles, was wir bis jetzt kennen. Deshalb müssen wir Verantwortung übernehmen und sie gründlich untersuchen."
Und genau das tut er seit Anfang 2015. An der Charité hat er mit drei Kollegen das Zentrum für Internet und seelische Gesundheit (ZISG) gegründet. "Ob das Internet krank macht, kann kein seriöser Psychater ernsthaft beantworten. Aber es laufen im Internet bestimmte Dinge schief, die durchaus krank machen können“, sagt er und spielt damit etwa auf die Themen Überwachung und das Ausnutzen von Daten an. "Wir brauchen einen Ort, an dem sich Betroffene, Angehörige und Freunde darüber austauschen können", fügt er hinzu.
„Wenn man etwas tut, was man eigentlich nicht tun will"
Und woran macht sich eine seelische Störung im Zusammenhang mit der Internetnutzung nun bemerkbar? „Etwa, wenn man bei sich selbst feststellt, dass etwas passiert, was einen verunsichert. Oder wenn man etwas tut, was man eigentlich nicht tun will", sagt Kalbitzer nach seinem Auftritt im Gespräch mit der Berliner Morgenpost. Dann könne man im ZISG anrufen und einen Termin machen - oder gleich in die Ambulanz des psychiatrischen Instituts der Charité kommen.
Ob das ZISG zu einer dauerhaften Einrichtung wird, ist indes offen. Man sei im Grunde "so etwas wie ein Start-up", sagt Kalbitzer. Die Finanzierung des Zentrums ist dank eines Stipendiums der Charité Stiftung für ein Jahr gesichert, alles weitere muss sich in dieser Zeit entwickeln. "Wir brauchen jetzt Menschen, die zu uns kommen wollen", so Kalbitzer. Er will dabei nicht nur Anlaufstelle für Betroffene sein, es sollen auch Impulse in Form von öffentlichen Vorträgen oder Publikationen zu dem Thema ausgesendet werden. Und wenn am Ende keiner kommt? "Dann machen wir wieder zu."
Auf der re:publica ist das Problembewusstsein allerdings da. Viele Zuschauer wollen noch diskutieren und haben Fragen an ihn, als Kalbitzer die Bühne verlässt. Damit steht sein Vortrag, einer der letzten der Konferenz, schon fast ein bisschen sinnbildlich für die vergangenen drei Tage, deren Botschaft etwa lautet: Die Digitalisierung verändert alles. Sie löst alte Probleme, um neue zu erzeugen - und vor allem stellt sie Fragen. Eins ist aber sicher: Es mangelt nicht an Ideen, wie man darauf eine Antwort finden könnte.

Foto: Nina Paulsen