Berlin ist einer der wichtigsten Orte in Europa, an dem die neue digitale Welt entsteht oder bereits entstanden ist. Aber mit dem Silicon Valley sollte man den Standort nicht vergleichen.

Wenn die Berliner Start-up-Szene beschrieben wird, sind oft Vergleiche mit dem Silicon Valley im Spiel, der Keimzelle der digitalen Welt. Damit sollte man aufhören, dieser Vergleich taugt nicht. Denn Berlin ist anders – gleichwohl einer der wichtigsten Orte in Europa, an dem die neue digitale Welt entsteht oder bereits entstanden ist.

Sie ist „Wildnis“ für die Organisatoren der Netzkonferenz re:publica, „Neue Normalität“ für den Technologiekongress Next. Das Potenzial des Standortes mag erahnen, wer sich die Rednerlisten der Berlin Web Week ansieht.

In Berlin lassen sich sechs Innovationsbereiche identifizieren, an denen „New Normal“ entsteht:

Onlinemarketing wächst dreistellig

AdTech: Dreistelliges Wachstum bei Hitfox, ein neunstelliger Exit bei Sociomantic. Darüber hinaus gibt es unzählige Hidden Champions wie die Start-ups YD oder RetentionGrid. Die Big-Data-Technologien dieser Unternehmen sind neben dem E-Commerce der Innovationsbereich, in dem zurzeit wohl am meisten Geld verdient wird.

Internet of Things (IoT): Dieser Trend, der vernetzte Kleidungsstücke (Wearable Devices) oder das vernetzte Wohnen (Smart Home) umfasst, gewinnt seit 2010 an Bedeutung. Der Funkschlüssel Kiwiki ist so ein Beispiel und die Internet-Lichtsteuerung, Brightup. Mehr als 130 Projekte aus 25 Ländern hatten sich beim IoT-Bootcamp der Telekom beworben, das vor einem Monat stattfand.

Pharmaindustrie entdeckt Start-ups

Hardware-Entwicklungen sind eine neue Berliner Spezialität geworden. Der Roboterbaukasten TinkerBots oder die Wurfkamera Panono etwa.

eHealth und BioTech: Der Pharmakonzern Bayer eröffnet nächste Woche seinen Collaborator für Gesundheits-Start-ups. Schon jetzt gibt es in diesem Bereich zahlreiche Ansätze – die Online-Sehschule Caterna, die Telemedizin-Anwendung Emperra für Diabetes-Patienten oder den Online-Hirntrainer NeuroNation.

Laternentanke für Elektroautos

CleanTech: Ob Ubitricity mit seiner Laternen-Tanke für Elektroautos oder die Stadtfarm ESF sowie die kleinen Start-ups auf dem Schöneberger Euref-Campus oder im Marzahner CleanTech-Businesspark – Immer mehr Gründer suchen Lösungen für nachhaltige Technologien.

Consumer Web: Das Ende des Hipster-Hype hat Berlin gut getan und schien es, als sei das Comsumer Web aus dem Fokus der Start-ups verschwunden. Dennoch gibt es interessante Ansätze: der Videomessenger TapTalk, die Powerpoint-Alternative Deckset, den eBook-Editor Liberio oder den Newsfeed-Organizer Flux – um nur einige zu nennen. Es ist auch ein gutes Zeichen, dass die Storytelling-Plattformen Exposure jetzt einen Standort in Berlin hat.

Neue Büros in der Factory

Einer, der das Potenzial der Berliner Gründer kennt, ist Simon Schaefer. Gemeinsam mit Udo Schloemer hat er 20 Millionen Euro in ein Brauereigebäude in Berlin-Mitte gesteckt. Dort entsteht auf 16.000 Quadratemetern der Start-up-Campus Factory. „Wir wollen Gründer aus unterschiedlichen Phasen zusammenbringen“, erläutert Schaefer sein Konzept. Deshalb zählen große Namen zu seinen Mietern: das Audionetzwerk SoundCloud, der Firefox-Entwickler Mozilla und der Aufgabenplaner 6wunderkinder. Aber auch unbekannte wie Mentor oder Views.

Schaefers Kritik: „Es gibt nicht genug signifikante Geschäftsmodelle“, klagt Schaefer, der die Gründer in Deutschland zu einer globaleren Sichtweise auffordert. „Investoren werden kommen, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden. Da müssen wir noch Basisarbeit leisten und relevante Unternehmen hervorbringen“, sagte Schaefer. Den Factory-Campus, der im Juni 2014 offiziell eröffnet wird, sieht er als einen Meilenstein auf diesem Weg. Dass Google-Chef Eric Schmidt zur Eröffnung kommen und eine Keynote halten soll, mag als weiteres Indiz für die Bedeutung gewertet werden, die der Standort Berlin auf der anderen Seite des Ozeans hat.

Schaefers Prognose geht er d’accord mit der Analyse des Venture-Capital-Investors Ciaran O’Leary (Earlybird). „Berlin hat das Geld, aber noch nicht die Zeit“, schreibt O’Leary. In Berlin gebe es wenig Unterstützung „für dringend benötigte kurzfristigen Exits“. Sie wären auch eine wirklich schlechte Idee, „bedenkt man, wie viel Wertschöpfung noch vor den Firmen liegt“.

Gutes Innovationsklima

Berlins Innovationsklima ist gut, wie das zuletzt 2013 erschienene Medienbarometer zeigt. 79 Prozent der befragten Gründer stuften die Infrastruktur, 73 Prozent das Preis-Leistung-Verhältnis als positiv ein. Das kreative Umfeld erfuhr mit 93 Prozent positiven Stimmen die beste Bewertung aller abgefragten Einflussfaktoren.

Die Unterstützung neu gegründeter Unternehmen wird dagegen recht negativ bewertet: Nur 18 Prozent der Befragten nannten Angebote politischer Institutionen als hilfreich oder sogar sehr hilfreich. Nur jeder Vierte beurteilte die Hilfe der Handelskammern so. Oder anders ausgedrückt: Zwischen 50 und 80 Prozent der Befragten profitierten nicht von offiziellen Angeboten.

Eine neue Einrichtung soll das ändern. Berlin soll nach dem Willen des Regierenden Bürgermeisters eine Start-up-Unit bekommen, wie es sie in London schon gibt. Sie soll im Sommer ihre Arbeit aufnehmen, wie Melanie Bähr, Geschäftsführerin der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Berlin Partner sagte.