Es war im März, als ein Freund sagte, dass er sich nun doch einen E-Book-Reader wird kaufen müssen, schließlich gebe es jetzt Mikrotext. Der Verlag wurde gerade erst gegründet, alle drei Monate gibt er fortan zwei Bücher zum Preis von 2,99 Euro heraus, ausschließlich elektronisch.
Auf der Homepage der Verlegerin Nikola Richter findet sich die knappe, klare Ansage: „Ich gründe einen Verlag für kurze digitale Bücher, der daran glaubt, dass das E-Book neue literarische Formate ermöglichen wird.“ Dahinter steckt kein ausgefeilter Marketingcoup, sondern eine starke, persönliche Haltung.
Gleich das erste Programm von Mikrotext im Frühjahr war eine Überraschung. Es steht unter dem thematischen Schwerpunkt: „Freiheit im Netz“ und präsentiert einen Essay von Alexander Kluge und eine Textauswahl des syrischen Bloggers und Autoren Aboud Saeed.
Vom Feuilleton wurde diese Sammlung gefeiert, das Kulturmagazin „Aspekte“ sprach vom syrischen Bukowski und ich kramte meinen E-Book-Reader hervor und begann „Der klügste Mensch im Facebook“ zu lesen, Zeilen wie diese:
28. Juni um 17:01
Geständnis Nr. 52
Ich werde so lange weiterschreiben, bis der Panzer bei unserem Haus ankommt.
31. Juli 2012 um 10:03 – Und, wie geht’s so? Gibt’s bei euch immer noch Probleme? – Das sind keine Probleme, das ist ‘ne Revolution
19. Januar 2013 um 14:10
Stechender, harter Morgen / wie der BH eines Mädchens, das seine BHs kiloweise kauft
In dieser Aufbereitung werden Statusmeldungen, die sonst ausschließlich für Saeeds arabische Freunde auf Facebook zu lesen wären, zu Literatur. Hart, direkt, umhauend.
Keine Konkurrenz zum gedruckten Buch
Nikola Richter sitzt in ihrem Ladenbüro an der Stresemannstraße, am Nebentisch die Grafikerin Andrea Nienhaus, die auch die Cover für Mikrotext gestaltet, und erzählt, wie es zu all dem kam. Sie ist Mitte Dreißig und wirbelt seit über zehn Jahren durch die Literatur- und Kulturszene. Schriftstellerin, Redakteurin, Theaterautorin, Bloggerin, Journalistin und jetzt Verlegerin.
Dieser Schritt erscheint bei ihr fast zwangsläufig. All die Kompetenzen, alle Erfahrungen und Kontakte, fließen bei Mikrotext zusammen. Nikola Richter ist eigentlich eine Gruppe, die sich gefunden hat. Die Texte, die sie auf einem Lesegerät lesen wollte, fand sie allerdings nicht und so hat sie letztes Jahr gedacht: „Das kann ich auch allein.“ Und losgelegt.
Ihre E-Books stehen in keiner Konkurrenz zum gedruckten Buch, sie fügen dem Markt etwas Neues hinzu. „Es sind bestimmte Formate, etwa im Netz geschriebene Texte, aktuelle oder wegen ihrer Kürze nicht druckfähige Schubladen-Texte digital viel besser zu veröffentlichen.“ Ihr geht es um die ästhetische Erfahrung, wenn ein Text gut geschrieben ist. „Da brauche ich kein Papier.“
Dabei vertraut Nikola Richter ausschließlich den Worten. Die Bücher sind klar und ruhig, keine Fotos, keine Videos, keine Interviews. Auf all diese Gimmicks zu verzichten, ist nicht bescheiden, sondern selbstbewusst. Von Anfang an hatte Nikola Richter ein Ziel: „Ich muss so gute Bücher machen, dass die Leute, die noch nie ein E-Book gelesen haben, das lesen wollen und diese Hürde, die sie innerlich aufgebaut haben: ‚E-Lesen ist schrecklich‘, dass sie diese überwinden.“
Ein Verlag für Autoren
Bei Aboud Saeed hat sie sofort erkannt, dass das ein aktuelles Thema und er ein interessanter Autor ist, sprachlich wie biografisch. Mit sieben Geschwistern und seiner Mutter lebt er in kleinem Haus im Norden Syriens, eine Gegend, die wöchentlich bombardiert wird. Er arbeitet als Schweißer, er denkt ständig an Frauen und bringt seiner Mutter das Rauchen bei. Seine täglichen Einträge haben ihm in seiner Heimat Kultstatus verliehen.
Dass sie ihn entdeckt hat, verdankt sie ihrem großen, internationalen Netzwerk, das sie über all die Jahre aufgebaut hat. Es hat auch nichts mit Glück zu tun, dass eine junge Verlegerin einen Essay von Alexander Kluge bekommt. „Die Entsprechung einer Oase“ beruht auf einem Telefonat, das Nikola Richter mit ihm führte. Kluge gehört zu der Generation von Intellektuellen, die zehn Seiten druckreif in den Hörer sprechen können.
Richter hat es transkribiert, lektoriert und ihm den Text wieder zugeschickt. „Begeistert ist er von dieser Zusammenarbeit gewesen“, erzählt Nikola Richter und das ist auch ein Vorteil von Mikrotext: „Die Zusammenarbeit mit den Autoren ist konzentrierter, die Arbeitsprozesse schneller, die Beteiligung an den Verkäufen höher als beim klassischen Buch. Mikrotext ist ein Verlag für Autoren.“
Tatsächlich ist es diese Direktheit, die alle vier bisherigen Mikrotext-Titel zu etwas Besonderem machen. In ihnen steckt eine Energie, die gedruckten Bücher allzu oft abgeht. Dort wurde manchmal so lang an den Texten gearbeitet, dass sie am Ende sichtlich erschöpft zwischen den Buchdeckeln liegen. Auch die beiden neuen Titel zum Thema „Umgang mit Schöpfung“ versetzen einen in angenehme Aufregung.
Bisher ein Liebhaber-Geschäft
So ist der Text des österreichischen Autors und Bachmannpreisträgers Franzobel mit dem verführerischen Titel „Steak für alle – Der neue Fleischtourismus“ ein irre komisches Essay, das beginnt mit der Frage, was eigentlich in unserem Essen ist („Überall irgendwas. Irgendwas, von dem man besser gar nicht wissen will, was es ist.“) und sich über fünfzehn Seiten immer weiter hochschraubt, zwischen Satire und Manifest, zwischen Wahrheit und Utopie.
Mit dem Fleischessen wird es schon bald sein wie mit dem Rauchen, gefährlich ist es, verachtet wird man von den „Radikalveganern“. Einer, der blutige Steaks liebt, wird zum Aussätzigen und wird sich nach Argentinien flüchten müssen, „ein Land, in dem man noch unbeschwert sein Steak lutschen kann, wo die Fleischblumen blühen.“ Am Ende steht der Kampfruf: „Genug! Es reicht“ Gleichgewicht! Steak für alle! Aber saftig!“
Zum Anderen, bedeutend ernsthafter, „Das Elster-Experiment“ von dem Leipziger Dichter und Philosophen Jan Kuhlbrodt. Für das vorliegende E-Book gründete er eigens ein Blog. Sieben Schöpfungstage, sieben Texte, historisch, philosophisch, biografisch, lyrisch. Auch die Kommentare anderer Nutzer sind zu lesen, mittendrin in einem Denkprozess ist man da.
Nikola Richter findet Autoren, sie wählt die Themen aus, sie kuratiert, lektoriert und vermarktet die Bücher. Echtes Geld kostet sie das kaum, sie investiert Zeit und Kraft. Um davon leben zu können, sagt sie, müsste Mikrotext 3000 Bücher im Monat verkaufen. Nur zum Vergleich: Wenn ein deutschsprachiger, halbwegs etablierter Schriftsteller, der in einem großen Verlagshaus veröffentlicht, 6000 bis 10.000 Bücher verkauft, gilt das bereits als Erfolg. Der E-Book-Anteil bei diesem Verkauf liegt bei etwa 15 Exemplaren. Zwei Prozent Markanteil macht das E-Book bisher aus.
Doch das alles ist erst der Anfang, von Aboud Saeed hat sie schon Auslandslizenzen und Hörspielrechte verkauft. Nikola Richter hat eine Vision, mit der sie nicht allein ist: „Berlin wird auch zur internationalen E-Book-Stadt. Es gibt schon einige Verlage, wir haben jetzt E-Book-Network Berlin gegründet, da sind wir zu fünft und ich bin mir sicher, da kommen noch mehr. Wir planen einen gemeinsamen Buchmesse-Stand, einen gemeinsamem Katalog. Wir versuchen den Markt erst mal zu öffnen und ihn sichtbar zu machen. Ich bin mir sicher, da sind Leute da draußen, die das lesen wollen, die Interesse haben an diesen neuen Formaten.“ Alexander Kluge hat dazu das Folgende bemerkt: „Die Chance der Evolution liegt immer bei den Kleinen.“