Berlin. An der Damaschkestraße in Charlottenburg verkauft Klaus André seit vier Jahren ausgefallene Vintage-Kleidung, Schuhe und Accessoires im Retro-Stil. Von den 20er- bis zu den 60er-Jahren.
Wie sehr er ausgefallene Dinge aus vergangenen Zeiten schätzt, zeigt sich gleich vorn am Tresen. Dort steht eine mehr als 100 Jahre alte, steingraue Bonkasse, die um die Jahrhundertwende in Lokalen Verwendung fand. „Das Besondere neben der Bonausgabe war ein Drehteller mit sechs Unterteilungen. Falls ein Gast meinte, zu wenig Rückgeld erhalten zu haben, konnte das bis auf fünf Personen nach ihm noch festgestellt werden.“ Man merkt dem 51-Jährigen die Freude an solchen kleinen Details an, wenn er davon erzählt.
Aus dem Hobby wurde eine Passion
Von seinem Outfit her könnte er sofort in einem Film aus den Vierzigern mitspielen. Ballonmütze, Strickpulli, Bundfalten-Chino und Retro-Sneaker des Berliner Schuhherstellers Zeha. Zu jedem Stück hat er eine kleine Geschichte. Der eingenähte Plastikschirm in der Mütze hält sie in Form. Sie wird in Eigenregie hergestellt, unter Verwendung eines der angeblich letzten Stecheisen, mit dem die sechs Stoffecken ausgestanzt werden. Die letzte deutsche Firma, die Reißverschlüsse herstellt, ist Lieferant für den Strickpullover-Hersteller. Wichtig ist André: „Wir verkaufen nur neue Ware im Stil der jeweiligen Mode, keine Secondhandmode.“
Die Turnschuhe der Reihe Liga mit den typischen vier Streifen etwa sind seit einigen Jahren sehr angesagt. Die rahmengenähten Sportschuhe im Stil der 30er-Jahre trägt er gerne. Für Kunden der schicken, um 200 Euro teuren Schuhe hat er gleich noch einen Tipp: „In der Nähe gibt es einen Schuhmacher, der abgelaufene Ledersohlen ersetzen kann.“ Dann folgt ein Exkurs über den Niedergang der vielen Einzelhandelsgeschäfte im Kiez nach dem Mauerfall. „Alle sind in den Osten gezogen. Zurzeit geht es aber auch hier wieder aufwärts“, sagt André.
Geboren ist der 1,95-Meter-Mann in Reinickendorf, aufgewachsen in Spandau. Auf die Idee, mit Retro-Ware zu handeln, habe ihn seine Frau gebracht. „Ich hatte mir damals ein Motorrad von 1935 gekauft, eine DKW KM 200, und suchte nach passender Kleidung und Ausrüstung aus dieser Zeit.“ Aus dem Hobby wurde eine Passion, und bald kannte André die einschlägigen Hersteller und verkaufte auf Oldtimermessen Jeans, Ausgehhosen, Sakkos, Jacken und dazu passende Schuhe.
Vor vier Jahren startete er „Retronia“ auf 90 Quadratmetern. 2017 kamen knapp 60 Quadratmeter nebenan dazu. Mauerdurchbruch und Innenausbau erledigte André allein. Herausgekommen ist ein Laden für Frauen und Männer, die Wert auf nachhaltig hergestellte Kleidung und Accessoires aus den 20er- bis 60er-Jahren legen.
Und das werden laut André immer mehr. „Angefangen hat es mit den 20er- und 30er-Jahre-Motto-Partys“. Dafür kann man sich bei ihm mit einem Charleston Flapper-Kleid oder Swing-Tanzkleidern ab 100 Euro ausstatten, zudem mit Tanz- und Ausgehschuhen, Hüten und Federboas.
Bei den Herren umfasst das Angebot etwa Knickerbocker, die an den Oberschenkeln ausgestellten Breeches, Kniestrümpfe, Hemden, Westen und Kopfbedeckungen. Letztere reichen von edlen Stetson-Hüten über trendige Jethelme für Roller- und Motorradfahrer bis zu Schieber- und Ballonmützen.
Man könnte den ganzen Tag in den Regalen und Kleiderständern stöbern, denn es gibt jede Grundform in mindestens drei oder vier Qualitäten. Also nicht nur Sneakers von Zeha, sondern auch vom belgischen Label Kamo-Gutsu, von Dickys und von kleinen Manufakturen aus England und Italien. Cabriofahrer finden Jacken von Bauer, lammfellgefüttert in Hirsch- oder Pferdeleder, alle mit im Kragen integriertem Windschott, ab 1200 Euro. Auch Cabrio- und Motorradbrillen sind im Sortiment, edle Lederhandschuhe für den Reitsport oder zum Ausgehen.
Zigarettenspitzen in verschiedenen Längen
In den Auslagen eines Art-Deco-Tresens liegen Produkte für die Körperpflege, Klingenrasierer aus Solingen und Thüringen, scharfe Rasiermesser, Minz-Rasierschaum aus England, dazu passend Rasierpinsel in fünf Qualitäten. Accessoires für die Damen sind Zigarettenspitzen in verschiedenen Längen, es gibt Nylons im 40er-Jahre-Stil, Schminktäschchen und -spiegel. Auch Unterwäsche im Vintage-Stil für sie und ihn wird verkauft. Bei den Damen stehen Unterröcke wieder hoch im Kurs, die Materialien reichen von Polyester bis Seide.
Für kleine und große Jungen findet sich ausgefallenes Blechspielzeug, vom Rennauto bis zum Zeppelin. In so viel Retro-Umgebung ist Klaus Andrés großer Traum natürlich auch nach altmodischer Art: „Toll wäre es, in einem Oldtimer aus den 20er-Jahren, vielleicht dem Model T, mit meiner Frau in der passenden Mode zu einem Picknick zu fahren.“
Retronia, Damaschkestraße 38, Charlottenburg, Tel. 030/43 66 48 89, Di.–Fr., 11–18, Sbd., 11–16 Uhr, www.retronia.de.
Alte Styles und Stücke, die nicht aus der Mode kommen: eine Auswahl
Dress Code, Nostizstraße 25, Kreuzberg, Tel. 12 02 04 91, Mo.-Sbd.,12-19 Uhr, www.dresscodeberlin.com
Spitze, Historische Bekleidung, Handarbeiten, Accessoires 1860–1960, Suarezstraße 53, Charlottenburg, Tel. 313 10 68, Mi.-Fr., 14-19, Sbd., 12-16 Uhr, www.spitze-berlin.de
Fruchthaus. Mode und Designermöbel, Zionskirchstraße 39, Mitte, Tel. 47 37 26 65, Mo.-Fr., 12-19, Sbd., 12-18 Uhr, www.fruchthaus-berlin.de
Glencheck, Mode und Accessoires 20er bis 50er, Joachim-Friedrich-Str. 34, Tel. 0177-971 71 23, Fr. 12-18, Sbd. ,10-14 Uhr und nach Vereinbarung,
Mimi, Textile Antiquitäten, Goltzstraße 15, Schöneberg, Tel. 23 63 84 38, Mo.-Fr., 12-19, Sbd. ,11-16 Uhr, www.mimi-berlin.de
Rag and Bone Man, Briesestraße 9, Neukölln, Tel. 0176-80 54 56 67, Mo., Di., Do+Fr., 8.30-18, Sbd.+ So., 9.30-18 Uhr, www.thefuturebreakfast.com
Retro Berlin, Oranienburger Straße 13-14, Mitte, Tel. 28 09 77 03, Mo.-Fr., 11-20, Sbd., 11-19 Uhr, www.retro-berlin.de
Udo’s Barbershop, Haarmode im Stil der 20er- bis 40er-Jahre, Gardeschützenweg 65, Lichterfelde, Tel. 834 47 73, Di., Fr., 9 – 18, Sbd., 9 – 13 Uhr, udos-barbershop.de
Vintage Berlin, Karl-Hunger-Straße 54, Treptow, Tel. 030/53 21 23 05, Mo.-Fr., 12-19 Uhr, Sbd., 11-16 Uhr, www.vintageberlin.de
V Vintage Fashion, Kopernikusstraße 18, Friedrichshain, Tel. 0171-979 61 77, Mo.-Sbd., 12-20 Uhr.