Eine Kreativenbürogemeinschaft in Kreuzberg: Neonröhren, lustige Stühle, Architekturzeitschriften, ein Kistenstapel Mate-Tee. Verena Gerlach öffnet fröhlich die Tür. Sie hat Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Weißensee studiert und fraugerlach gegründet, ein Studio für Grafik, Schriftgestaltung und Typografie (www.fraugerlach.de). Sie arbeitet als freie Dozentin für Typographie. Philip Cassier und Felix Müller haben bei ihr vorbeigeschaut.
Berliner Morgenpost: Hallo Frau Gerlach, einen schönen Schriftzug haben Sie da an Ihrer Wand.
Verena Gerlach: Ja, oder? Die „Wäscherei“ hing in der Auguststraße 26 in Mitte. Eine Original Metall-Futura aus den Zwanzigern. Da stand ein Baugerüst vor dem Haus, das war 1995 oder so. Eine tolle Zeit, diese ganzen Buchstaben, die man überall retten konnte! Ich hab also bei der Bauleitung angerufen. „Ich kann ja nen Kasten Bier mitbringen!“, sagte ich. „Na hören Sie mal“, wurde ich freundlich zurechtgewiesen, „Das ist ne Baustelle, die trinken doch kein Bier!“ Also habe ich den Bauarbeitern ein Blech Kuchen mitgebracht, und die Jungs haben die Buchstaben für mich abmontiert. Ich hab so was gesammelt wie verrückt, bis sich mein Freundeskreis irgendwann beschwerte, bei meinen Umzügen dauernd diese Buchstaben durch die Gegend schleppen zu müssen. Ich hab dann viele verschenkt.
Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der öffentlichen Beschriftung Berlins. In den Neunzigern sind sie viel mit dem Fotoapparat unterwegs gewesen und haben dokumentiert, was man heute kaum noch sehen kann. Was ist typisch an Berlin?
Die deutsche Typographie hat ja ihre eigene Tradition und unterscheidet sich von Frankreich zum Teil erheblich. In Berlin wurden durch die Mauer viele dieser Schriften auf Wänden und Schildern konserviert. So hatten wir hier die Möglichkeit, Dinge zu sehen, die in anderen Städten eigentlich schon seit den 50er-Jahren nicht mehr existierten. Durch die Mangelwirtschaft im Sozialismus blieben die erhalten. Die Schriftmalerei war dort lange Zeit die beste und einfachste Möglichkeit, Geschäftsbeschriftungen zu gestalten, während in Westdeutschland schon längst Plastik, Letraset und solche Dinge gebräuchlich waren. Die Ausbildung zum Schildermaler war in der DDR auch viel länger ein intensiver Ausbildungsberuf.
Wo genau ist denn der Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Tradition der Schildermalerei?
Die Schildermalerei in Frankreich hatte mit dem Bleisatz nichts zu tun. In Deutschland gingen Bleisatz und Schildermalerei Hand in Hand und inspirierten sich gegenseitig. In Frankreich waren die Letterings entweder nur in Großbuchstaben, also in Versalien – und alles, was in Kleinbuchstaben hinzukam, gab es nur in kursiv. Hier in Deutschland haben wir schon immer Groß- und Kleinschreibung gehabt.
Ist nicht auch die Fraktur typisch für Berlin?
Das macht Hollywood ja fast immer falsch. Wir hatten selbst zu Nazizeiten so gut wie keine Fraktur auf den Fassaden. Es gab ja damals schon den großen Streit zwischen Fraktur und Nichtfraktur. Alle modern denkenden, alle geschäftstüchtig oder touristisch denkenden Menschen haben gar keine Fraktur benutzt, weil die für Nicht-Deutsche zu schwer lesbar war. Wenn man sich die Fotos aus dieser Zeit ansieht, findet man so gut wie keine Fraktur, außer auf Gaststätten oder als Bierwerbung. Fraktur wurde so gut wie nicht auf der Fassade genutzt.
Am S-Bahnhof Wannsee findet man aber beispielsweise noch Frakturtypen.
Stimmt, das sind die alten S-Bahnschilder. Aber für kommerzielle Zwecke kam die Fraktur kaum zum Einsatz. Als Teil des Corporate Designs im nationalsozialistischen Berlin haben die das natürlich schon gemacht. Es wird ja auch häufig durcheinandergeworfen, was Fraktur ist und was gebrochene Schrift. Fraktur ist tatsächlich das Deutsche. Ich muss ganz ehrlich sagen, ohne mich als politisch rechts einordnen zu wollen, es gibt wunderschöne Frakturschriften. In Deutschland hat es aber immer so einen negativen Beigeschmack, dass man Frakturen kaum verwenden kann. Voriges Jahr habe ich Fraktur in Polen unterrichtet, das war der Hammer. Ich war die Einzige, die damit ein politisches Problem hatte. Die fanden die Fraktur total toll. Auch im Osten existierten kaum Ressentiments gegenüber der Fraktur. Das Berliner Ensemble und die Komische Oper, die hatten immer Fraktur auf ihren Plakaten, das hat kein Schwein gestört.
Wir haben ein paar Beispiele für die Beschriftung Berlins mitgebracht. Hier eine, die fast jeder Tourist vor seine Kameralinse bekommt: „Dem Deutschen Volke“ auf dem Westportal des Reichstags.
Das ist deshalb toll, weil da gleichberechtigt eine Frau daran beteiligt war: Anna Simons. Das ist leider immer noch zu selten in der Schriftbranche. Peter Behrens war ja bekannt für ganz moderne Architektur, und Anna Simons hat zusammen mit ihm für den Reichstag die Beschriftung gemacht. Das hat Jahre gedauert, bis die Debatten darüber beendet waren. Und wenn man sich diese Schrifttype mal ansieht: Die sieht ja schon absurd aus. Aber entscheidend ist, dass keiner etwas gegen sie haben kann. Sie ist weder Fraktur noch ist sie Grotesk. Insofern funktioniert sie super. Die Frakturfraktion konnte nichts dagegen sagen, die Groteskfraktion fühlte sich gebauchpinselt. Die Schrift kommt so ein bisschen jugendstilhaft, ein bisschen historisch daher. Aber sie bedient beide Lager. Und Anna Simons war eine ganz spannende Frau, die durfte in Düsseldorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht studieren – weil sie eine Frau war. Dann ist sie nach London gegangen, hat am Royal College studiert und lange als Assistentin von Edward Johnston gearbeitet – der Grafiker, dem die Londoner U-Bahn seine Gestaltung verdankt. Sie war diejenige, die deutschen Architekten wie Peter Behrens das Schrift-Schreiben beibrachte.
Ein weiteres Beispiel: Die Laufschriften, die in Zeiten des Kalten Krieges auf dem Springer-Hochhaus und auf dem Esplanade am Potsdamer Platz angebracht waren.
Das ist großartig wegen des frühen Datums. Diese Laufschriften gab es bereits Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger. In der Zeit, kurz nach dem Krieg, als kaum noch etwas stand, gab es eine Displayschrift. Was ich daran so toll finde, waren die Folgen: Ohne die Präsenz dieser Schriften wären die Hochhäuser an der Leipziger Straße nicht gebaut worden. Diesen „Nachrichtenterror“ wollte man in Ost-Berlin nicht haben.
Wir alle lesen jeden Tag Straßenschilder und denken uns nichts dabei. Was sollte man über sie wissen?
Wir haben hier einmal die sogenannte West-Berliner Schrift, die eigentlich die Großberliner Schrift ist. Da ist Torstraße ein interessantes Beispiel, weil die ja zwischendurch Wilhelm-Pieck-Straße hieß und in der Ost-Berliner Schriftvariante beschildert war. Nach der Wende kehrte man dann zur alten Typo zurück. Es gab tatsächlich eine klare Teilung zwischen Ost und West anhand der Straßenschilder. Die Emaille-Schilder waren im Westen fast alle zerstört worden – das Meiste wurde im Bombenkrieg eingeschmolzen. Was nicht eingeschmolzen wurde, montierten die Berliner gern ab, um den Alliierten die Orientierung zu erschweren. Im Westen sind die dann wieder aufgelegt worden. Eine Berliner Besonderheit ist ja, dass die Straßenschilder auf den Stelen stehen und nicht an den Häuserwänden sind. In den frühen Zwanzigern ist dann die Schrift für Großberlin entwickelt worden, basierend auf einer Erba.
Wie war das mit der Schrift im Osten?
Wieder die Mangelwirtschaft. Es gab zu wenig Metall, das war für Straßenbeschilderung zu wertvoll. Also hat man ein Kunststoff-Verfahren entwickelt – nach dem Sandwich-Prinzip befand sich ein schwarzer Kunststoffkern zwischen zwei weißen Kunststoffschichten, und dann hat man den Straßennamen einfach eingefräst. Der Vorteil daran war, dass hier die Witterung diesen Schildern auch nichts anhaben konnte.
Und warum ist die Schrift soviel schmaler als im Westen?
Das erklärt sich mit den absurd langen Straßennamen im Sozialismus: „Allee der Kosmonauten“. Oder „Stadion der Weltjugend“. Deswegen ist die Schrift so „condensed“. Es gibt da zwei Varianten dieser Schrift, je nach der Fräse, die verwendet wurde.
Was störte Ost-Berlin an der alten Schrift?
Die Ligaturen erschienen denen wahrscheinlich etwas junkerhaft. Altbacken und historisch. So wie man das Schloss und die Fischerinsel abgerissen hat, wollte man eben auch nicht diese Schrift. Aber es gab dafür natürlich auch technische Ursachen.
Wie muss denn generell eine Schrift für ein Hinweisschild beschaffen sein, damit sie ihren Zweck erfüllt?
Da gibt es natürlich immer noch wüste Grabenkämpfe rund um die Frage, wann eine Schrift gut lesbar ist. Die gute Nachricht lautet: Es hat nichts mit Serifen zu tun. Das wichtigste Kriterium ist Unterscheidbarkeit. Schauen Sie sich doch einmal das „a“ an – es ist doppelstöckig.
Stimmt.
Es sieht also eben nicht aus wie ein angeschnittenes „o“ oder wie ein „d“ mit verkürztem Strich. Das sind also eigene Formen, die man auch nicht verwechseln kann. Das ist bei diesen Displayschriften ganz wichtig, dass ein „o“ aussieht wie ein „o“ und ein „a“ wie ein „a“. Da ist dann auch das doppelstöckige „g“ wichtig. Diese doppelstöckigen Formen kennen wir meistens aus Serifenschriften, das hat zu dem Missverständnis geführt, sie seien leichter lesbar.
Aber die meisten längeren Texte sind in Serifen gedruckt.
Stimmt nicht unbedingt. Bei Zeitungen ist es so, dass der Druck weniger leicht reißt, wenn man Ankerpunkte in der Schrift hat. Ansonsten ist es Gewohnheit.
Was halten Sie von Arial, einer Schrift ganz ohne Serifen?
Arial ist böse. Eine miese Kopie von einer Helvetica. Helvetica würde ich nicht als böse bezeichnen, aber ich glaube, sie wird zu oft unüberlegt eingesetzt.
Jeder Tourist bekommt es in Berlin auch mit den Schriften an S- und U-Bahnhöfen zu tun.
Ich freu mich jedes Mal beim U-Bahnfahren, dass fast jeder S- und jeder U-Bahnhof eine andere Beschriftung hat. Wenn Sie sich allein den Hermannplatz anschauen, wie die Gestaltung da vergurkt wurde: unbezahlbar. Dieses völlig verunglückte a! Oder der Jakob-Kaiser-Platz: Immer wenn ich dort einsteige, frage ich mich: Was müssen die Touristen denken? Oder diese Kacheln am Mierendorffplatz!
Welche U-Bahnhöfe finden Sie besonders schön?
Der Fehrbelliner Platz – weil du da beides hast, diese historischen Kacheln und dieses Spätsiebziger-Design, wie wir es auch an der Schloßstraße haben oder am Rathaus Steglitz.
Hier haben wir den Volksbühnen-Schriftzug.
Wunderbar. Schauen Sie sich das K an. Das K ist konstruiert, so machen es nur die Schildermaler. Zwei Diagonalen sind zu schwierig zu gestalten. Deshalb hat man sich so beholfen. Das kommt uns fast „sowjetisch“ oder kyrillisch vor, weil es so gerade ist. Und so handgemacht. Eine raffinierte Lösung.
Ein anderes Theater: Das Logo des Berliner Ensembles.
Ich liebe Neon. Das können Sie auch gern schreiben: Mich nervt an dieser Stadt, dass man nur bis zu einer bestimmten Größe Neonanlagen installieren kann. Deswegen sieht es Unter den Linden auch so wahnsinnig provinziell aus. Denken Sie London oder New York. Im japanischen Osaka gibt es eine riesige Wand aus Neons, das ist die Hauptattraktion der Stadt.
Neon ist das ultimative Symbol für Nacht.
Ja, das ist Großstadt. Neon kommt wieder zurück, ich würde aber gern mehr davon sehen.
Gibt es eigentlich Bestrebungen, all diese Buchstaben auch einmal unter Denkmalschutz zu stellen?
Das wäre gut. Ich finde es gut, dass wir schon ein Buchstabenmuseum haben, aber ich finde, sie gehören in den öffentlichen Raum und sollten da auch geschützt werden. So wie die Zierfische am Frankfurter Tor zum Beispiel. Schade, dass sie nicht mehr da sind. Die Dinger sollten hängen bleiben. Auch die Schriften. Denken Sie an die „Neue Zeit“ am Checkpoint Charlie. Kann jetzt keiner mehr sehen. Stattdessen sehen wir eine Werbetafel. Das ist doch schade. Und das mit dem Denkmalschutz, das wäre wirklich mal eine gute Idee.
Verena Gerlach & Fritz Grögel & Sébastien Morlighem Karbid Berlin – de la lettre peinte au caractère typographique. Ypsilon editeur, 37 Euro.
Mehr über das Buchstabenmuseum unter www.buchstabenmuseum.de