Nicht überall dort, wo Roma wohnen, muss Müll liegen. Dass es auch anders geht, hat die katholische Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft an der Harzer Straße in Neukölln bewiesen. Als das Kölner Unternehmen die Schrottimmobilie mit 137 Wohnungen kaufte und 2012 auf vorbildliche Weise sanieren ließ, lebten dort Roma-Familien aus Rumänien. 400 Menschen aus dem Dorf Fantanele, die Hälfte der Bewohner. Aus den damals mit meterhohem Müll zugestellten Innenhöfen, durch die die Ratten huschten, ist eine gepflegte Grünanlage geworden. Aufgerüttelt worden war die Öffentlichkeit von den skandalösen Verhältnissen durch die benachbarte Schule sowie durch Medienberichte.
Menschen auf Augenhöhe begegnet
Heute wohnen in dem komplett sanierten Haus 90 Roma-Familien, zu denen 220 Kinder gehören. Damit keine Parallelgesellschaft oder ein Ghetto entsteht, werden frei werdende Wohnungen nicht an Nachzügler vermietet. „Wir sind den Menschen auf Augenhöhe begegnet, haben unsere Mieter ernst genommen“, berichtet Benjamin Marx von der Wohnungsgesellschaft. Ein Modellprojekt – auch für Europa. Deshalb reiste EU-Sozialkommissar László Andor an, um sich die gelungene Integration anzusehen. Andor ist Ungar. Und er lobte das Projekt.
Damit die anderen Einwohner von Fantanele nahe Bukarest auch in ihrer Heimat eine Perspektive haben und nicht auswandern müssen, will die Wohnungsgesellschaft dort auch aktiv werden. Eine vergleichbare Werkstatt wie auf dem Wohngelände an der Harzer Straße, in der der Berliner Recyclingkünstler Gerhard Bär heute schon mit den Bewohnern Objekte aus Müll herstellt, soll auch in ihrem Heimatdorf eingerichtet werden. „Soziales Plastik“ nennt Bär das Projekt, bei dem aus Müll kleine Kinderstühle oder andere nützliche Dinge entstehen, die auch verkauft werden können. Ziel ist eine professionelle Manufaktur, mit der die Menschen ihr Einkommen sichern.
Viele Roma leben in Berlin-Neukölln
Bär hat ein zwei mal zwei Meter großes Herz aus Plastik gebaut. Es hängt in einem sonst leeren Raum auf dem Gelände und symbolisiert den Perspektivwechsel, wie Marx den Besuchern erklärt. Das Kunstobjekt heißt Amor, Roma rückwärts gelesen. Alle sind sich einig, dass das Neuköllner Beispiel gelungener Integration noch lange nicht überall Standard ist. Das Dreiklassensystem Europas, Westeuropa als erste Klasse, Osteuropa als zweite und die Roma als dritte Klasse, müsse egalisiert werden, fordert Marx. Dabei helfen könne auch der Jugendaustausch. Aber auch städtische Wohnungsgesellschaften könnten sicherlich mehr tun als bislang, sagt er.
Auch nach Ansicht der Neuköllner Bezirksstadträtin Franziska Giffey muss in den Heimatländern der Zuzügler mehr unternommen werden, damit diese Menschen nicht gezwungen sind auszuwandern. Gerade in Neukölln leben besonders viele Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Sie kamen schon, als sie ihren Wohn- und Arbeitsort noch nicht frei in der EU wählen durften. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt für Bulgaren und Rumänen erst seit 1. Januar 2014.
Die Zahl der in Deutschland lebenden Roma wird auf 120.000 geschätzt, viele davon leben in Berlin, speziell in Neukölln. „In Neukölln haben wir den höchsten Anstieg rumänischer und bulgarischer Zuwanderer“, sagte Barbara Loth, Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen.
Gemeinsam lernen in der Ganztagsschule
Die Hans-Fallada-Schule hat als Nachbar des Wohnprojekts an der Harzer Straße seit 2011 mit Willkommensklassen auf den Zuzug der Roma-Familien reagiert. Rumänischsprachige Lehrkräfte unterrichten dort Schulanfänger, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Von den 420 Kindern der Grundschule haben 380 einen Migrationshintergrund, die meisten sind türkisch- und arabischstämmig, dann folgen die Kinder mit dem rumänischen Hintergrund, berichtete Schulleiter Carsten Paeprer.
Der Anfang vor drei Jahren, als wöchentlich bis zu zehn neue Kinder aufgenommen werden mussten, sei schwer gewesen. „Inzwischen sind wir aber ganz gut aufgestellt“, sagt der Schulleiter. So gebe es eine Gruppe von Kindern, denen Grundkenntnisse schon vor ihrem Schuleintritt vermittelt werden, beispielsweise, wie mit Stift, Schere oder Schnürsenkel umgegangen werden muss.
Die rumänischen Kinder, die nicht nur die deutsche Sprache nicht beherrschten, hätten auch ein völlig anderes Verständnis vom Lernen gehabt. In Rumänien hätten sie häufig gar nicht die Schule besucht, sagt Paeprer. „Sie hatten kein Gefühl, was Schule bedeutet.“ Aus den anfänglichen Sprachförderprogrammen für diese Kinder, bei denen die Erzieher merkten, dass sie die Integration eher behindern, wurde das gemeinsame Lernen aller Kinder in der Lernwerkstatt der Ganztagsschule.
Bildungsfrage ist für die Zukunft entscheidend
Dort erforschen sie gemeinsam, wie Brücken gebaut werden, Regenwürmer leben, Elektrizität funktioniert oder andere spannende Fragen des praktischen Lebens. „Das eigene Erforschen und Lernen im Austausch mit den anderen führt dazu, dass sie zu Experten werden und so das Zutrauen gewinnen, in einer für sie fremden Sprache zu sprechen. Wir haben damit große Erfolge“, bilanzierte Miriam Asmus, Leiterin der Lernwerkstatt.
Doch diese Beispiele sind Ausnahmen, denn die Zahl der Menschen, die aus Bulgarien und Rumänien kommen, wächst und stellt Neukölln vor große Probleme. Florian Pronold (SPD), Parlamentarischer Staatssekretär beim Umweltbundesministerium und zuständig für Stadtentwicklung, sicherte beim Treffen in der Schule zu: „Die Bundesregierung wird sich bemühen, den Kommunen, die besonders betroffen sind, zeitnahe und konkrete Hilfestellungen zu geben.“ 15 bis 20 Städte in Deutschland seien betroffen. Die Wohn- und Gesundheitssituation sowie die Schulfragen seien dabei besonders wichtig.
Das sieht auch der rumänische Staatspräsident Traian Băsescu so. Die Bildungsfrage sei für die Zukunft entscheidend. „Die Elterngeneration hat in Rumänien eine Schulbildung erhalten. Aber wenn wir so weitermachen, lernen deren Kinder nicht einmal lesen und schreiben“, sagte er. Damit würden sie eine noch viel größere Hypothek für die Zukunft. Rumänien etwa sei bereit, Lehrer in alle Städte zu schicken, in denen Roma anzutreffen seien.
Nomaden bei den Roma in der Minderheit
Băsescu war wegen der Zuwanderungsdiskussion nach Deutschland gekommen. Vor allem die CSU hatte vor vielen armen Menschen gewarnt, die aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland ziehen würden. Die Sorge der Politiker: Frauen mit Kleinkindern betteln, größere Kinder belästigen Touristen, Jugendliche lärmen auf alten Instrumenten in der S-Bahn – und alle beziehen Sozialleistungen. Băsescu sagte: „Rumänien ist samt den in Rumänien lebenden Roma der EU beigetreten.“
Als sein Land Beitrittsverhandlungen geführt habe, hätten alle von den in seinem Land lebenden Roma gewusst, auch von den Problemen, die mit ihnen verbunden seien. „Ich verstehe die Sorgen der EU-Regierungen, die jetzt ein Problem mit den Roma haben, aber wir sind kategorisch gegen einseitige Maßnahmen gegen Rumänen oder Bulgaren“, sagte er.
Bei den Gruppen, die in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien Schwierigkeiten bereiteten, handele sich um Nomaden, die auch bei den Roma eine Minderheit darstellten. Niemand könne es ihnen verbieten, in die Länder der EU zu reisen. „Wir wissen, dass diese Leute viel mehr stören als ein Banker, der zehn Millionen Euro verspekuliert“, sagte Băsescu.
EU-Kommissar verspricht Geld aus dem Sozialfonds
Auch EU-Kommissar Andor gab zu, dass durch den plötzlichen Zustrom von Menschen aus anderen EU-Ländern „in bestimmten geografischen Gebieten vereinzelt Probleme“ entstehen könnten. Und er versprach Geld aus dem Europäischen Sozialfonds.
Zugleich zeigte er sich entschlossen, dafür zu sorgen, dass EU-Bürger ihr Recht, in jedem anderen EU-Land zu leben und zu arbeiten, tatsächlich ausüben können. Das Recht auf Freizügigkeit sei „nicht verhandelbar“.