Jung geblieben

Rocken mit Rollator – Berliner Senioren feiern Ü70-Partys

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Judith Luig

Foto: Martin U. K. Lengemann

Im Seniorenzentrum Am Bäkepark in Berlin-Lichterfelde feiern die Bewohner Ü70-Partys – und bleiben nicht unter sich. Getanzt wird nicht selten bis Mitternacht.

Die Rollatoren stehen in der Ecke. Jemand hat sie kurzerhand zur Garderobe umfunktioniert und ein paar Mäntel drübergeworfen. Ab jetzt hält man sich am Tanzpartner fest. Dirk, der Ergotherapeut, schwoft vorbei, eine Dame im hellblauen Pullover greift sich ihn.

Hinterm Mirko steht Jürgen und singt „Schenk mir diese eine Nacht.“ Rote Kegel aus der Lichtmaschine jagen sich die Tapete entlang. „Ist das nicht super, Mädels?“, ruft Ulrike zwei Achtzigjährigen zu. Im Pflegeheim ist Ü70-Party.

Hüftbrechwetter, die Berliner Straßen sind voll Schnee und Eis. Trotzdem sind 40 Tänzer ins Seniorenzentrum Am Bäkepark gekommen. Der Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf ist eine Hochburg der Seniorenheime, einige Gäste sind Nachbarn aus einem der anderen Häuser, wo nicht so viel los ist.

Ein großer Anteil aber ist da, weil sie einfach Lust hatten, zu tanzen zu einer Musik, die sie mögen. Hier sogar live. „Und wenn’s passiert, schlaf ich in Deinen Armen ein“, singt Jürgen. Danach will Andrea Berg den Horizont berühren und Ulrike ist dran mit singen.

Auch Jüngere kommen

Inge hat sich eingeschmuggelt. Sie ist noch U70, aber als sie die Anzeige sah, mit der Vitanas in der Zeitung geworben hatte, war sie spontan entschlossen, dass sie sich das ansehen musste. Ihr Mann Rudi kramt den Zeitungsausschnitt hervor: ein grauhaariger DJ-Rentner mit Kopfhörern am Plattenpult. „Das fand ich ansprechend“, sagt Inge. „Nicht so gewöhnlich.“ Der Empfang am Bäkepark hat ihr Recht gegeben. „Wir kennen hier ja keinen und sind sofort sehr herzlich begrüßt worden.“

Viola Jäckel, die Sozialarbeiterin, schaut zufrieden auf die Tanzfläche, wo eine Walzerrunde eingelegt wird. „Beim letzten Mal wurde es fast Mitternacht, da mussten wir sogar Rausschmeißer spielen“, sagt sie. Rosemarie springt auf: „Det liebe ich.“ Sie mischt sich „Rot, rot, rot sind die Rosen“ singend unter die Tänzer. Um viertel nach sieben gibt es die erste Pause mit kaltem Büfett und heißen Buletten. Der Kellner schenkt den Damen Rotkäppchen-Sekt nach. 7 Euro für Live- Musik, Getränke und Essen, da kann man nicht meckern. Mit 78 Jahren ist Rosemarie Barnetz ein Teenie im Seniorenheim am Bäkepark. Der Altersdurchschnitt liegt hier bei 95 Jahren. Natürlich können viele der Bewohner so ein Angebot wie die Ü70-Party gar nicht wahrnehmen. Aber das muss ja nicht bedeuten, dass niemand mehr tanzen darf. Im Herbst des vergangenen Jahres tourte der Schlagersänger Christian Anders durch die Berliner Vitanas-Einrichtungen.

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Vitanas betreibt 36 Seniorenheime und zwölf Pflegeheime in ganz Deutschland. Die Zentrale ist Berlin, da gibt es elf Standorte. Die Ü70-Party aber ist ein Alleinstellungsmerkmal vom Bäkepark. „Für Frohnau wäre das unter Niveau“, sagt Angela Koschies, die für Presse und Marketing zuständig ist. „Die wollen lieber französische Abende mit Edith Piaf, Käse und Rotwein.“ In der Gegend Berlins ist eben das gehobene Bürgertum zu Hause. In Köpenick wiederum funktioniert gar kein Schnickschnack, nur klassisches Programm. In der Einrichtung im Märkischen Viertel, einer Hochhaussiedlung aus den späten 60ern, läuft Kulinarisches am besten. „Beim Eisbeinessen hatten wir 100 Anmeldungen“, sagt Koschies.

In Spandau hatte Vitanas bis zum vergangenen Jahr ein Gelände mit großem Garten, da haben sie im Sommer ein Mittelalterfest gemacht. Bewohner und Besucher verbrachten mehrere Nächte in Zelten. Im Rosengarten, auch in Steglitz-Zehlendorf, will das Publikum momentan am liebsten gar keine Veranstaltungen. Seit ein paar Monaten haben sie nämlich eine Wii, und jetzt sind mehrere Teams damit beschäftigt, im Turnier gegeneinander anzutreten. Mittlerweile gibt es sogar schon Nachbarn, die sich über die Feierfreudigkeit beschweren. Dass sie Halloween feierten, gefiel beispielsweise einem Anwohner gar nicht. Diese Geister-Deko sei doch eher unpassend.

Public Viewing zur EM

Das Pflegeheim als Partylocation – wer hätte das gedacht. Die gängige Meinung ist doch, dass jeder, der nicht im Altenheim leben muss oder dort keine Angehörigen besuchen will, sich möglichst fernhält von den Einrichtungen. Irgendwie scheint sich das gerade zu ändern. Ein bisschen überrascht scheint das Personal am Bäkepark selbst noch von dieser Entwicklung. „Zur EM haben wir Public Viewing gemacht“, erzählt Jäckel. „Wir dachten, da kommt eh keiner, aber es wurde richtig voll.“ Manche Ideen, die das Team entwickelt, stoßen erst mal auf Skepsis. „Als wir die Trommelgruppe gegründet haben, da haben Leute gelacht, ‚habt ihr ne Macke?‘“, sagt Jäckel. Den Bewohnern aber gefällt es. Im März gibt es eine Karaoke-Party.

Die Musik hat das Jahrzehnt gewechselt. „Oh, Mamacita, I am going crazy“. Der Kellner tanzt jetzt auch mit. Er kreist mit seinen Hüften, und gleich mehrere Omacitas aus der Tanzfläche flippen zu Recht aus. Noch sind die Frauen in der Überzahl, aber das könnte sich bald ändern. Als sie die Anzeigen schalteten, kamen gleich mehrere Anrufe von alleinstehenden Herren, erzählt Jäckel. „Wir hätten den Abend auch Ü70-Single-Party nennen können“, sagt sie. „Aber das haben wir uns dann doch nicht getraut.“